Erich Hackl als Gast im Musischen Gymnasium

stellte sich am 3. April 2000 im Festsaal den Fragen unserer Schüler und Schülerinnen zu:

 

„Auroras Anlass“ (1987)

„Abschied von Sidonie“ (1989)

„Sara und Simon“ (1995)

„Versuch einer Liebe auf den ersten Blick“ (1998)

 

(ABGEDRUCKT IM JAHRESBERICHT DES MUSISCHEN GYMNASIUms 1999/2000)

 

 

Im hohen Mittelalter zogen die Poeten, zum Beispiel die Minnesänger, von Burg zu Burg, im Gepäck eine gereimte Huldigung an den anwesenden Mäzen und seine Gemahlin, einen Spottvers an dessen politischen Gegner, ein hochmodernes, unerhörtes Liebeslied, auch mal ein existenzialphilosophisches Gedicht. Mit ihrem Gesang und Vortrag verdienten sich diejenigen, die nicht adeliger Abstammung waren und das Reimen als Hobby betreiben konnten, ihr Brot und schufen sich mit ihrer Anwesenheit an ständig wechselnden Höfen, auch mal wie beim ersten Eurosongkontest auf der Wartburg zur Ermittlung des Besten unter ihnen, einen Namen. Sie fungierten als lebende Zeitungen, repräsentierten in ihren Epen die Ideale des neuen Standes der Ritter und waren insgesamt begehrte Unterhaltungsartikel an einem Hof, der sich ansonst oft genug gelangweilt hat. Diese exklusive Dichtung kam in diesen frühen Tagen der Literaturgeschichte durch mündlichen Vortrag an das nur ausnahmsweise alphabetisierte (höfische) Publikum. Die Poeten zählten zum fahrenden Volk und waren schon damals Vertreter in eigener Sache, wenn sie sich als klingende Marke etablieren wollten, wie es beispielsweise Walter von der Vogelweide einstens gelang.

Vieles hat sich geändert seit den letzten 800 Jahren. Mit dem Buchdruck im 15. Jahrhundert und der fortschreitenden Urbanisierung der Literatur, abgeschlossen im 18. Jahrhundert durch die Etablierung eines bürgerlichen Literaturbetriebes, wandelte sich die Beziehung des Autors zu seinem Publikum zu einem indirekten, eben über die Ware Buch vermittelten, aus der der Autor in der Regel als Kommunikationspartner ausscheidet. Für den bürgerlichen Leser tritt er leibhaftig nur mehr ausnahmsweise in Erscheinung. Der Autor selber freilich, wenn er nicht zu den Spitzenverdienern in seiner Klasse zählt – und der bürgerlich-kapitalistische Literaturbetrieb lässt wie beim Starkult in den anderen Kulturbereichen auch nur einige wenige an die Sonne, zählt nach wie vor zu den Fahrenden. Er tingelt von Lesung zu Lesung, kreuz und quer durch Österreich, durchs deutschsprachige Ausland, meistens tief in die Provinz hinein und hundertmal mit demselben Programm und den immer gleichen Fragen an ihn. Denn die AutorInnen sind, was der Literaturbetrieb eine promotion tour nennt, auf die Einkünfte aus diesen Lesungen angewiesen. Vom Schreiben und Verkauf auch eines gut gehenden Romanes allein kann, wie in den einschlägigen Studien über die Einkommensverhältnisse und die soziale Lage der österreichischen LiteraturproduzentInnen nachzulesen ist, kaum einer/eine leben. In dieser Hinsicht zählen sie, wie gesagt, zum fahrenden Volk, fallen wohl nicht mehr den Räubern in die Hände, wohl aber mal einer Krankheit zum Opfer, weil und wenn sie keine Sozial- oder Rentenversicherung haben, die sie sich nicht leisten können. Wie schon ihre mittelalterlichen Vorfahren sind sie auf Mäzene angewiesen und deren finanzielle Zuwendungen und Begünstigungen. Stipendien öffentlicher und privater Einrichtungen, Literaturpreise, von Institutionen des Literaturbetriebes organisierte Lesungen oder gesponserte Studienaufenthalte sind Ausdruck modernen Mäzenatentums, auf deren Nutzung die AutorInnen angewiesen sind, wenn sie ein der Lebensqualität ihres Lesepublikums adäquates Leben führen wollen und sich doch meist nur die Rahmenbedingungen schaffen können für ein neues arbeitsreiches literarisches Unterfangen.

Auch Erich Hackl, bestimmt ein Autor, der sich in Österreich und im gesamten deutschsprachigen Raum (auch mit hohen Auflagenzahlen) einen Namen gemacht hat, wovon die zahlreichen Renzensionen zu seinen Texten in den Feuilletons der wichtigsten Tageszeitungen zeugen, geht auf solche promotion tours. Er hat deshalb unsere Einladung, sich auch den Fragen seiner LeserInnen am Musischen Gymnasium zu stellen, gerne angenommen. Die Leselampe, eine Einrichtung am Literaturhaus Eizenbergerhof hatte ihn sowieso zu zwei Lesungen zu seiner neuen Erzählung „Versuch einer Liebe auf den ersten Blick“ nach Salzburg und Elixhausen eingeladen und so fügte es sich für uns und ihn gut, dass wir ihn auch an unserer Schule zu Gesicht bekamen.

Vorausschicken muss ich, dass Erich Hackl an Österreichs Schulen ein gern gesehener Gast ist. Das hat vielerlei Gründe. Seine Texte werden nicht nur von Erwachsenen, sondern auch von Schülern gerne gelesen. Seine Erzählungen sind relativ kurz, also auch für Schüler bewältigbar. Sie behandeln Themen aus der jüngsten Geschichte Österreichs, Spaniens und Lateinamerikas. Sie ergreifen, ohne in eine moralisierende und belehrende Besserwisserei abzugleiten, Partei für Menschen, denen Unrecht und Leid widerfahren ist und bieten auf Grund ihrer Gemengelage zwischen Geschichtsschreibung und reiner Fiktion reichlich Material für Diskussionen. Zum Beispiel über die poetologischen Konsequenzen, die sich aus einem der historischen Wahrheit verpflichteten Schreiben ergeben.

Das Besondere an der Veranstaltung mit Erich Hackl aus literaturpädagogischer Sicht war die Tatsache, dass die SchülerInnen das Gespräch mit dem Autor auf dem Podium vor einer großen Öffentlichkeit allein, also ohne Mitwirkung ihres Deutschlehrers, zu führen hatten. Weiters, dass alle seine bisher erschienenen Texte besprochen, vor jeder Besprechung jeweils eine knappe Inhaltsangabe vorgetragen und überdies zur Veranschaulichung der historischen Zusammenhänge Ausschnitte aus Videofilmen auf die Kinoleinwand im Festsaal projiziert werden sollten. Überdies mussten eine Schülerin und ein Schüler gefunden werden, die sich die Moderation dieser Veranstaltung zutrauten. Die Realisierung dieser Ziele bedeutete für Schüler und Lehrer einen erheblichen organisatorischen Aufwand und eine spezielle inhaltliche Vorbereitung. Die 5I Klasse hatte im letzten Schuljahr schon „Abschied von Sidonie“ gelesen und bekam heuer „Sara und Simon“ als Klassenlektüre dazu. Die 6A Klasse las heuer ebenfalls die tragische Geschichte des adoptierten und schließlich nach Auschwitz transportierten Zigeunermädchens Sidonie Adlersburg. Kollegin Croll schloss sich mit ihrer 7A Klasse bzw. mit Sidonies Schicksal unserem Veranstaltungskonzept an. Jeweils zwei Schülerinnen aus der 5I und 6A vertieften sich in die beiden anderen Erzählungen, nämlich „Auroras Anlass“ und „Versuch einer Liebe auf den ersten Blick“ und trugen deren Inhalt in ihren Klassen vor. Nach der Klassenlektüre wurden die Erzählungen im Deutschunterricht besprochen und geeignete Fragen an Erich Hackl formuliert. Eine Schülerin und ein Schüler aus der 6A konnten als Moderatoren gewonnen werden. Sie haben sich mit mir zusammen auf ihre Aufgabe vorbereitet und die Verantwortung für die Führung durch das Programm von der Begrüßung, den Einleitungen und Überleitungen zu den jeweiligen Erzählungen, den Ankündigungen der Videofilme bis zur Verabschiedung des Autors übernommen. Im Deutschunterricht wurden Filmreportagen gezeigt, von denen ich mir eine Ausleuchtung des historischen Hintergrundes und Zusammenhanges erwartete. Dies waren je eine Filmreportage über das Zigeunerlager in Salzburg an der Moosstraße (1939 bis 1943) und über das Schicksal der Roma und Sinti in Österreich überhaupt. Im Frühling 1943 ist das Lager aufgelassen und mehrere hundert Roma und Sinti aus ganz Österreich sind damals nach Auschwitz transportiert worden; unter anderem auch die Familie Adlersburg mit ihrer Tochter Sidonie, die ja bekanntlich, weil man in Steyr zu wenig Zivilcourage hatte, ihren Adoptiveltern weggenommen und zu ihrer leiblichen Mutter überstellt worden war, ohne dass diese, ohnehin wissend, welches Schicksal den Zigeunern bevorstand, dies gewünscht hatte. Als Hintergrundmaterial für die politischen Unruhen und menschlichen Katastrophen in Uruquay und Argentinien (Erzählung „Sara und Simon“) diente mir eine Filmreportage über die Großmütter auf der Plaza de Majo in Buenos Aires, die noch während der Zeit der Militärjunta in ihren Schweigezügen auf das Verschwinden ihrer verschleppten Kinder und Enkelkinder aufmerksam gemacht und erste erfolgreiche und gewaltlose Widerstandshandlungen gesetzt haben. Die Erzählung von Erich Hackl nimmt auf diese Großmütter Bezug. Anschauungsmaterial für die Vorgänge in Spanien zur Zeit des Bürgerkriegs ab 1937 und die Beteiligung der 1350 Spanienkämpfer aus Österreich, die für die Verteidigung der Republik und im Kampf gegen den Faschismsus ihr Leben riskierten, bekam ich mit einer Reportage des ORF in die Hände. Diese Filme sind im Unterricht in voller Länge gezeigt und besprochen worden, mussten aber für die Veranstaltung mit Erich Hackl auf eine verträgliche Länge zusammengeschnitten werden. Dabei war mir die Medienstelle des Landesschulrates behilflich.

Im Folgenden die Beschäftigung mit Hackls Prosa im Deutschunterricht vorgestellt und die Ergebnisse des Schülergesprächs mit ihm reflektiert und zusammengefasst. (siehe auch die tabellarische Übersicht im Anhang zu diesem Aufsatz zur jeweiligen Thematik, den zentralen Schauplätzen, den Motivparallelen in seinen vier Erzählungen und anderes mehr).

Erich Hackl hat in seinen vier Erzählungen authentische Fälle aufgegriffen und sie alle akribisch recherchiert. Er fühlt sich bei deren Rekonstruktion der historischen Wahrheit verpflichtet. Schreibimpuls war ihm dabei immer auch die die Erinnerung stützende Dokumentation von Unrechtsfällen. Seine Texte verstehen sich auch als Denk- und Mahnmäler für den Widerstand von Unterlegenen, wie zum Beispiel aus der liebevollen literarischen Behandlung der Familie Breirather, den Adoptiveltern von Sidonie, klar hervorgeht. Seiner Beharrlichkeit gegenüber den zuständigen Stellen in Steyr war es auch zu verdanken, dass das Schicksal der kleinen Sidonie auch außerliterarisch auf einer Gedenktafel dokumentiert worden ist. In Bezug auf die Erzählung „Sara und Simon“ hat Hackl angemerkt:. „Ich wollte Sara zur Seite stehen. Ich fand, dass jemand ihre Geschichte aufschreiben musste.“ (zitiert nach Volker Hage „Im Garten der Folterer“; Spiegel v. 17. 4. 1995, S. 219f)

Dass Hackl bei der kunstvoll nüchternen Rekonstruktion individueller Tragödien am Rande politischer Umbrüche abgesehen von der in seiner Schreibweise implizit enthaltenen Bewertung menschlichen (Fehl)Verhaltens auch als Kommentator Partei ergreift, steht außer Frage. Ambivalent fällt in dieser Hinsicht aber die Kritik seiner Rezensenten aus. Für Kristina Maidt-Zinke zum Beispiel (in der FAZ v. 30. 4. 1999) sind seine Texte „streng, still, nehmen Partei und moralisieren, verströmen aber nicht den Geruch trockener Gesinnungstraktate“. Hackl lockt nach dem Urteil von R. Baumgart (in der Zeit v. 27. 5. 1999) auch nicht mit dem Glanz politischer Ideale (bezogen auf den Antifaschismus der Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg: „Versuch einer Liebe auf en ersten Blick“; des spanischen Sozialismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts: „Auroras Anlass“; des Sozialismus und Kommunismus in Österreich ab der ersten Republik bis zur gewaltsamen Angliederung Österreichs 1938 in „Abschied von Sidonie“). Andere wiederum sprechen zum Beispiel im Hinblick auf „Sara und Simon“ von der „Milch der frommen Denkungsart“, von der Hackl die Finger lassen solle, weil eine solche Haltung die Dinge einfacher und damit harmloser mache, als sie wirklich sind bzw. von der „grenzenlosen Identifikationsbereitschaft“ Hackls, sich die Sicht des Opfers (Sara) zu eigen zu machen und damit nur die Froschperspektive abzubilden, werfen ihm also die Unfähigkeit zur Analyse vor, weil er den Abstand zur empirischen Welt möglichst gering halten will (so in einem harten Urteil A. Breitenstein in der NZZ v. 28. 3. 1995).

Diese Ambivalenz setzt sich in der Bewertung seines Schreibstils fort. Die einen bescheinigen ihm die „Fähigkeit, aus den zur Meldung geschrumpften Fakten wieder die Wirklichkeit der Ereignisse zu entwickeln“ (Klappentext zu Sidonie), loben den geschmeidigen Chronistenstil, sein Talent zur Lakonie. Anderen missfallen, ohne dass sie die poetische Qualität seiner Texte insgesamt in Frage stellen, manche Passagen seiner Texte. Sie seien zum Beispiel im Hinblick auf den hohen Erklärungsaufwand des historischen Rahmens, in dem seine Figuren handeln, zu schulbuchhaft (so Barbara Becker in ihrer Rezension zu „Auroras Anlass in der Zeit v. 10. 4. 1987). Sie befürchten, dass er das „kleinmeisterliche Ausmalen schrecklicher Fälle aus allen Unglückszonen des 20. Jahrhunderts“ (G. Seibt zu „Sara und Simon“ in der FAZ v. 18. 2. 1995) fortsetzt. Man traut ihm einen längeren, rein fiktionalen Roman zu und würde es bedauern, wenn er an der „Musterkollektion des realen Schreckens“ weiterarbeiten und sich auf die Verfahrensweise des poetischen Dokumentarismus festlege. Hackl selbst bringt seinen schmucklosen Schreibstil (keine innovativen Metaphern, Vergleiche, Symbole, also poetische Mittel der Veranschaulichung; rhetorische Figuren usw.) mit dem Bewusstseinsstand, dem sozioökonomischen Kontext bzw. einer diesem entsprechenden Sozialisierung seiner Figuren in Zusammenhang (besonders deutlich an der Darstellung der Arbeiterfamilie Breirather in „Abschied von Sidonie“) und den geschilderten schrecklichen Ereignissen, bezüglich derer es auch sprachlich-rhetorisch nichts zu feiern gäbe. Hackls Stärke liegt vielmehr in seiner gezielt eingesetzten Lakonie, wofür aus „Abschied von Sidonie“, im übrigen wohl auch deshalb so erfolgreich, weil der Autor als erster das Schicksal dieser auch vom Naziterror erfassten Ethnie dargestellt hatte, zwei Beispiele angeführt werden sollen. Als die Zigeuner 1939 überall im Deutschen Reich in Lager geschafft wurden, waren sie, wie Hackl schreibt, auch in Steyr auf einmal nicht mehr zu sehen. Von der Bevölkerung ist das als Naturgesetz hingenommen worden. Nur die Familie Breirather war beunruhigt und Hackl lässt sie – ihr grausames Schicksal vorausdeutend – befürchten: „Die können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!“ Und als Sidonie einmal die Haare geschnitten werden, heißt es lapidar: „So schöne Haare [. . .] zu schade fast zum Verheizen.“

In seinen vier Erzählungen kann man eine allen Texten gemeinsame übergreifende Thematik erkennen. Seine Bücher sind eine Variation über das alte Thema der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, nämlich der Kindesweglegung und Kindesannahme. Ihren besonderen Akzent erhalten sie jeweils durch das Motiv der Liebe, in der vor allem die Mütter zu ihren Kindern, aber auch die Eltern zueinander stehen. Hackls Erzählungen erinnern mit der Konstellation der ihr Kind suchenden Mutter, der Mutter, die sich ein Kind wünscht und der Frage, wem denn das Kind wirklich gehört: der leiblichen Mutter, die sich um ihr Kind nicht kümmern kann (Sara) oder nicht will (die Mutter von Sidonie) oder der Adoptivmutter, die dem angenommenen Kind ihre volle Liebe schenkt, an alte Märchen. Darin liegt auch, wie Alfred Pfoser (im Falter v. 31. 3. 1995) feststellt, die Wucht und mythische Fallhöhe seiner Erzählungen begründet, die an fundamentale Ängste rühren. Auch die Bewährung dieser Liebe in der Situation der existenziellen Bedrohung, sogar über den Tod hinaus, wird in den Texten verhandelt; besonders deutlich ausgeführt im „Versuch einer Liebe auf den ersten Blick“. Die politisch engagierten Werke Erich Hackls sind, wie das Kritische Lexikon der Gegenwartsliteratur ausführt, im übrigen „Teil einer explizit linken Tradition in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Die Parteinahme für politisch Unterdrückte, wirtschaftlich und sozial Ausgebeutete und Entrechtete charakterisiert sowohl die operative Ästhetik seiner fiktionalen Werke [. . .] als auch seine vielen literarischen und politischen Essays und Rezensionen.“ Hackls übergreifendes politisches Anliegen ist, so das Lexikon weiter, die literarische Analyse des Faschismus in Österreich und in den spanischsprachigen Ländern als geschichtliches und gegenwärtiges Phänomen

Manche Kritiker sehen in Hackl auf Grund seines der historischen Wahrheit verpflichteten Schreibstils keinen Poeten und rücken ihn in die Nähe der Journalistik oder der Historiographie. Richtig an dieser Kritik ist, dass der Ausgangspunkt seines Schreibens jeweils authentische Fälle sind. In diesem Punkt gleicht er den Verfassern historischer Romane, die ihren Plot ja auch den Materialien der Geschichtsschreibung entnehmen. Hackl rechtfertigt diese Vorgangsweise, abgesehen von seinem engagierten Humanismus, der ihn auch außerhalb seiner literarischen Tätigkeit für die Wahrung der Menschenrechte insbesondere gegenüber seinen verfolgten BerufskollegInnen eintreten lässt, mit dem Glauben, dass die Phantasie, das heißt die Fiktion nicht mehr Möglichkeit biete als die Realität. Die Wirklichkeit sei oft radikaler, überraschender, unverhoffter als das, was er sich als Schriftsteller ausmalen könne (zitiert nach V. Hage, Spiegel v. 17. 4. 1995, S. 219). Dem kann man im Hinblick auf die referierten Fakten, zum Beispiel die Folterszenen in „Sara und Simon“ gewiss zustimmen. Bei deren Wiedergabe ist er übrigens besonders behutsam vorgegangen. Er bannt die Grausamkeit der Folter, indem er sie in einer Paraphrase des Märchens „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ verfremdet.

Letztlich ist diese Ambivalenz auf die Gemengelage seiner Texte zwischen Fiktion, also der „reinen” erzählenden Dichtung und den Fakten, also der Historiographie und der Journalistik (Vorwurf der bloßen „illustrierten Zeitgeschichte“) zurückzuführen. Man sieht in ihm mehrheitlich einen poetischen Historiographen, also einen Autor, der der historischen Wahrheit verpflichtet ist, dabei aber Poet genug ist, durch seinen Schreibstil und bestimmte poetische Verfahrensweisen (wie der Vorausdeutung, der Rückblende, der Dehnung und Raffung, des Perspektivenwechsels, der Montage usw.) die Ambition der bloßen Faktenrekonstruktion hinter sich zu lassen. In mancher Hinsicht erinnert Hackl an Johann Peter Hebel, dessen berühmte Stelle über das Verstreichen eines halben Jahrhunderts aus dem „Unverhofften Wiedersehen“ er in Saras Geschichte aufgegriffen und variiert hat, und seine Kalendergeschichten. Auch Hebel hat wie Hackl Moral, Didaxe und Erzählung pointiert zu verbinden gewusst. Grundsätzlich gleicht er natürlich auch den Verfassern historischer Romane und Erzählungen, die bezüglich ihres Plots und der Figurenkonstellationen auch Chronisten sind und ihre Phantasie, das heißt ihre Imagination diesbezüglich bewusst einschränken. Anders aber als bei Hebel oder den Verfassern historischer Romane, die sich hinsichtlich der Gestaltung des Innenlebens ihrer Figuren keine imaginative Zurückhaltung auferlegen, solange ihre Zeichnung nur im Rahmen des Wahrscheinlichen bleibt, treibt Erich Hackl seine der Authentizität verpflichtete Grundhaltung so rigoros weit, dass er von seinen Figuren, egal ob es um äußere Handlungen oder kognitive und emotionale Abläufe im Inneren seiner Figuren geht, nur dann etwas zu berichten bzw. zu gestalten scheint, wenn er diese absolut sicher recherchiert hat. Beim Lesen hatte ich öfter den Eindruck, dass der Autor selbst vor der Wiedergabe trivialer Abläufe zurückscheut, wenn er deren Authentizität bezweifelt. Wenn Hackl dann beispielsweise einmal von Träumen seiner Heldin Sara erzählt, fragt man sich, selbst schon eingeschworen auf das Prinzip des dokumentarischen Schreibens, ob diese Passagen nun erfunden oder historisch verbürgt sind. Aufs Ganze gesehen kann eine solche Grundhaltung bzw. Beschränkung auf das tatsächlich Recherchierte keine runden Figuren mit allen ihren Widersprüchen und Komplexitäten ergeben. Überhaupt fällt auf, dass Hackls Figuren kaum räsonieren und reflektieren, also wenig Innenleben haben. In seiner letzten Erzählung, seiner kürzesten, macht Hackl aus der Not eine Tugend, wenn er das Wenige, was er über das Schicksal des österreichischen Spanienkämpfers Karl Sequens, seiner spanischen Frau und seiner Tochter in Erfahrung bringen konnte, mit dem Vorzeichen „So könnte es gewesen sein“ oder ähnlichen salvatorischen Klauseln wie „vielleicht“ usw. versieht. Ob der Moralist Erich Hackl von diesen selbst auferlegten Beschränkungen hinsichtlich der Stoffwahl, der Figurenzeichnung und des Schreibstils abgeht und seine imaginative Potenz einmal auch im rein Fiktionalen entfaltet? Die Zahl seiner Leser würde in diesem Fall gewiss noch steigen.

Im Übrigen haben die SchülerInnen die ihnen gestellte Aufgabe, auf dem Podium vor einer großen Öffentlichkeit mit einem anerkannten Autor der österreichischen Gegenwartsliteratur ein Gespräch über literarische Fragen zu führen, mit Bravour gelöst. Manchmal gelang es ihnen auch, von den vorbereiteten Fragen abzusehen, zu extemporieren und bei Antworten nachzuhaken. Besonders Bernadette Bayrhammer und Fabian Setznagel (beide 6A) , die sich als Moderatoren bewährt haben, werden nun mehr als eine Ahnung davon haben, welche Fähigkeiten man haben und ausbauen muss, wenn man Literatur einem Publikum informativ und unterhaltsam zugleich vermitteln will. Nicht zuletzt Erich Hackl selbst, seiner Auskunftsbereitschaft, seiner Gabe, komplizierte Sachverhalte anschaulich und überzeugend darzustellen, war es zu verdanken, dass dieser Literaturveranstaltung, die vom Verein für Schule und Kultur finanziell unterstützt worden ist, ein voller Erfolg beschieden war.

 

Hackl_Ende