Zehn Jahre schriftliche Reifeprüfung Deutsch nach den Formatierungsvorgaben der Zentralmatura Worauf Maturareife heute hinausläuft:

40.000 Texte von der Stange

(geschrieben im November 2023)

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Kurzfassung des Langtextes

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Von Mai 2013 bis September 2023 sind bei der Zentralmatura Deutsch bei bisher 29 Maturaterminen in Dreierpaketen mit jeweils zwei Themen 160 Aufgabestellungen und fast 500 unterschiedlich oft auf diese verteilten Schreibaufträgen bzw. Operatoren vorgelegt worden. Nach zehn Jahren aufmerksamer Begleitung der schriftlichen Reifeprüfung ist ein guter Zeitpunkt gekommen, die mit dem Paradigmenwechsel gemachten Versprechungen und daran geknüpften Erwartungen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Die Langfassung meines Aufsatzes ist in der pdf-Verlinkung abrufbar.

Die Quintessenz der acht Abschnitte habe ich auf die folgende Kurzform gebracht:

  1. Viele Jahrzehnte gab es für die AHS und BHS unterschiedliche Aufgabenstellungen, die auf die jeweils anders gewichteten Bildungsziele, Lehrpläne und inhaltlichen Schwerpunktsetzungen dieser Schultypen Bedacht nahmen.
  2. Seit der Einführung des neuen Maturamodus im Schuljahr 2014/15 erhalten die Abiturienten und Abiturientinnen aller höheren Schulen Themenpakete mit den gleichen Aufgabenstellungen.
  3. Die Gleichschaltung der Themen für die AHS und BHS im Fach Deutsch wurde nicht, wie vielfach angenommen, vom Europäischen Parlaments bzw. den Europäischen Qualifikationsstandards (EQS) verfügt. Sie wurde vielmehr von der Gruppierung im Bildungsministerium bestimmt, die sich im Konzert der Bildungspolitiker in der Konzeptionsphase ab 2006 durchgesetzt hat. Weil man sich auf die EQS schlecht berufen konnte, hat man ein neues Argument ins Spiel gebracht. Danach würde man sich mit den gleichen Themen für alle auf das durch die Diversifizierung der Schultypen verloren gegangene allen höheren Schulen angeblich Gemeinsame im Fach Deutsch beziehen.
  4. Dabei sind der Maturamodus der BHS mit seiner >Zwei-Texte-Pflicht< und Teile des für die AHS fremden Textsortenkanons, insbesondere der der HAK, in das neue System übernommen worden.
  5. Nicht nur formal hat sich das neue Maturakonzept an das der BHS angepasst, sondern in den ersten Jahren auch inhaltlich. Im Mai 2013 und 2014 nahmen die Aufgabensteller auf die Ausbildungsschwerpunkte der berufsbildenden höheren Schulen in einem Maße Bedacht, dass die Chancengleichheit gegenüber den Absolventen der AHS nicht gegeben war.
  6. Angesichts der nicht geringen Kritik an dieser die BHS favorisierenden Vorgangsweise ruderte das Ministerium zurück, will aber bei den Aufgabenstellungen nach wie vor auf die Besonderheiten der AHS und BHS Rücksicht nehmen.
  7. Gleiche Chancen für alle bedeutet für die Aufgabenstellungen der Folgejahre aber nichts anderes als: die Anforderungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren.
  8. Das allgemeine Bildungsziel der AHS wie das selbständige Denken und die kritische Reflexion kommt dann in den Aufgabenstellungen genauso zu kurz wie bei der BHS am Beispiel der Handelsakademie die kaufmännische Bildung zur Qualifikation in allen Wirtschaftszweigen und Verwaltung oder bei der HTL der Erwerb fachlicher Bildung zur Ausübung eines höheren Berufes.
  9. Die Zentralmatura im Fach Deutsch mit für alle Schultypen gleichen Aufgabenstellungen ist also ein vom Europäischen Qualifikationsrahmen nicht gefordertes Reduktionsmodell auf dem Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners aller höheren Schulen, tendenzielle Bevorzugung der berufsbildenden höheren Schulen nicht ausgeschlossen.
  10. Ein Reduktionsmodell ist die Zentralmatura weiter deshalb, weil sie den Schülern und Schülerinnen das Geschäft des Gliederns weitgehend aus den Händen nimmt und paternalistisch bestimmt, was angesichts einer Problemlage Ordnung ist.
  11. Maturareife besteht jetzt darin, von fremden Köpfen Erarbeitetes zu identifizieren und in einer Paraphrase mit verschwimmenden Grenzen zum copy and paste an den vorgegebenen Stellen in die eigene Arbeit einzubauen. Für die Entfaltung eigenständig erarbeiteter Lösungen gibt es kaum Raum.
  12. Es darf bezweifelt werden, ob mit diesem Maturamodus die vom Ministerium als Ziel angegebene „langfristige und dauerhafte Qualitätssteigerung und -sicherung an Österreichs allgemein- und berufsbildenden höheren Schulen“ und die wagemutig verkündete „erhöhte Studierfähigkeit“ bewirkt werden können.
  13. Ich befürchte, dass diese Form einer Zentralmatura mit ihren Rückkoppelungseffekten auf eine lange Schullaufbahn in Wahrheit auf Schreib- und Denkformatierung, Abrichtung und Entmündigung hinausläuft.
  14. Grundproblem 1: Die Deutsch-Texte bei der schriftlichen Reifeprüfung werden aus der Bearbeitung des für alle Schultypen der AHS und BHS gleichen Stoffes (den Textbeilagen) nach vorgegebenen Schnittmustern zusammengebaut.
  15. Grundproblem 2: Mit all ihren Formatierungsvorgaben nimmt sich diese Form einer Zentralmatura die Produktionsphilosophie des Taylorismus zum Vorbild. Das Anfertigen von Texten wird in Analogie gesehen zur Vereinheitlichung von Arbeitsprozessen und der Steuerung bei der Produktion von Erzeugnissen (Typung) und Erzeugnisteilen (Normung) wie beim Zusammenbau eines Autos, der Herstellung von Kuckucksuhren oder anderer Massenwaren. In der Wirtschaft verbessern Standardisierungsmaßnahmen die Effizienz des Arbeitseinsatzes und die Qualität der Produkte. Die Übertragbarkeit dieses Konzeptes auf mentale Prozesse, wie sie bei der Anfertigung von Maturaaufsätzen zu leisten sind, ist aber grundsätzlich zu hinterfragen und führt wie im Falle der nach den Vorgaben der Zentralmatura angefertigten Maturatexte tendenziell zu Produkten von der Stange.
  16. Mit den schon bis in die Primarstufe hinunter spürbaren Auswirkungen der Schreibnormierung durch Operatoren hat das Ministerium, jedenfalls für den Textsortenkanon der Zentralmatura, auf „genial“ einfache Weise auch die leidige Problematik der Schreibdidaktik an den höheren Schulen gelöst, seit einem halben Jahrhundert ein Desiderat bei der Deutschlehrerausbildung.
  17. Die „Zusammenfassung“ der Zentralmatura gibt vor eine Zusammenfassung zu sein. Sie weicht aber in dem, was beim Schreiben verlangt wird, von der klassischen Zusammenfassung, bei der es um das Komprimieren des Textinhaltes geht, so weit ab, dass man von einer Textsorte sui generis sprechen muss. Richtig ließe sich dieses Schreiben daher als >auftragsgemäßes Zusammenstellen von Informationen aus Textbeilagen< bezeichnen.
  18. Die Aufgabenstellungen beim Leserbrief leiden an einem Systemfehler, der mit der langen Vorlaufzeit zu tun hat, bis aus einem Aufgabenvorschlag aus der Lehrerschaft endlich eine vom Ministerium abgesegnete Themenstellung wird. Die Kandidaten und Kandidatinnen sollen mit ihren Leserbriefen auf einen Text aus den Medien reagieren, der bis zu sechs (!) Jahre zurückliegen kann. Das ist eine Situation, in der weder ein Bürger/eine Bürgerin auf einen nicht mehr aktuellen Anlass mit einem Leserbrief Bezug nehmen noch eine Redaktion einen so verspäteten Leserbrief berücksichtigen wird.
  19. Der Problemaufsatz hat im System der Zentralmatura seinen traditionellen Namen beibehalten und firmiert nach wie vor unter dem Etikett Erörterung. Durch die verpflichtende Integration von Inhalten aus einer Textbeilage rückt er jetzt aber grundsätzlich in die Nähe zur so genannten Texterörterung. Die durch die Operatoren sich auseinandersetzen mit (synonym dazu: diskutieren) dabei verlangte dialektische Gedankenführung wird von den Aufgabenstellern in ihren „Lösungs“-Kommentaren trivialisiert. Sie verzichten auf die eigentlich verlangte Synthesenbildung und bieten regelmäßig nur die bloße Gegenüberstellung von Pro- und Kontraargumenten und ähnlich binäre Kategorien an. Es sollte darüber nachgedacht werden, ob die verlange „Auseinandersetzung“ mit vorgegebenen Inhalten bei einer Texterörterung nicht in Wirklichkeit auf die Beurteilung ihrer argumentativen Qualität, allenfalls die Ergänzung von Argumenten hinausläuft.
  20. Die Textinterpretation (20.1.) ist die Textsorte, bei der den Kandidaten und Kandidatinnen keine brauchbaren Informationen zur Verfügung gestellt werden, auf die sie zugreifen können, so wie das bei einer Erörterung, einem Kommentar oder einer Meinungsrede über Textbeilagen der Fall ist. Die dahinter erkennbare Einstellung >Ein poetischer Text ist auch rein textimmanent „deutbar“, also ohne Berücksichtigung der Kontextbezüge, ist eine Beschneidung seiner Bedeutungsdimensionen. Dieses Literaturverständnis widerspricht den Lehrplanbestimmungen über den (auch schriftlichen) Umgang mit Literatur sowohl an der AHS als auch an der BHS. Das Ministerium geht sogar so weit, solche Interpretationsaufgaben auch den Absolventen der Kurse für die Berufsreifeprüfung vorzulegen, die sich in einem Jahreskurs (!) auf die Zentralmatura vorbereiten, freilich nicht auf das Verfassen von Interpretationen, weil das in ihrem Lehrplan gar nicht vorgesehen ist. (20.2.) Der Umgang mit literarischen Texte, das Kappen der Mehrfachbezüge ihrer Poetizität, den das Ministerium derzeit zum Standard macht, ist eine Schande und verträgt sich nicht mit dem Anspruch Österreichs eine Kulturnation zu sein. Er ist nicht mit dem Bild von sich vereinbar, das Österreich in die Welt hinausträgt.
  21. Die Analyseaufträge bei der Textinterpretation und Textanalyse sind viel zu allgemein formuliert, als dass ihnen Gütekriterien für die Objektivität der Beurteilung entnommen werden könnten. Bei den Datenmengen, die zu berücksichtigen sind, ist deren leserfreundliche Einbindung auf dieser Entwicklungsstufe kaum vorstellbar.
  22. Die in der pdf-Verlinkung mit Beispielen dargestellte Handhabung der Operatoren benennen / wiedergeben, bewerten / beurteilen, sich auseinandersetzen mit / entwerfen lassen das Urteil zu, dass die Aufgabenstellungen nicht immer die Klarheit haben, die man im Vertrauen auf die vielfach gerühmte Präzision der Operatoren und deren Bezugsobjekte erwarten könnte – schließlich ein wichtiges Motiv für die Konzeption der Zentralmatura.
  23. Die Langfassung des Aufsatzes (pdf-Verlinkung, Kap. 7) enthält Vorschläge, wie bei der Erörterung, beim Kommentar und der Meinungsrede mehr Eigenleistung bewirkt werden könnte.
  24. Wenn beim Ministerium Daten zu den gewählten Themenpaketen und Textsorten in der AHS und BHS oder zu den Kriterien der Literaturauswahl nachgefragt werden, lässt es sich dazu, abgesehen davon, dass das Führen von Statistiken eingeräumt wird, keine Informationen entlocken. „Kommandos an die Truppe“, lapidar und mit keiner Begründung versehen, wie das beim Streichen der Textsorten Empfehlung und Offener Brief geschehen ist, machen sich heutzutage gar nicht gut. Vielleicht schafft es das Ministerium, einen Ort der kritischen Kommunikation einzurichten, an dem ein breiterer Kreis tätig sein kann als der von den item writern gebildete, die bisher im engsten Kontext kaum erfahren können, wie ihre Aufgabenstellungen von der Fachkollegenschaft beurteilt werden.

Unbedarftheit und handwerkliches Unvermögen

Aufgabenstellung Zentralmatura Deutsch 5. Mai 2022

Gedichtvergleich

Bertolt Brecht und Marie Luise Kaschnitz

Vorbemerkung

Der folgende Aufsatz geht auch auf ein  mit dem Salzburger Germanisten Karl Müller geführtes Gespräch über zwei Texte zurück, die bei der Mai-Matura 2022 verglichen werden sollten. Seinen Fachkenntnissen verdanke ich es, dass ich meine Gedanken nachschärfen und Lücken in meiner Argumentation füllen konnte. Einige seiner Erkenntnisse und Formulierungen habe ich mit seiner Erlaubnis übernommen.

Bei der Darstellung der Unzulänglichkeiten dieser Aufgabenstellung verzichte ich auf die Ausarbeitung der Schreibaufgabe 1 (Geben Sie die Inhalte der beiden Gedichte kurz wieder.) und der Schreibaufgabe 2 (Analysieren Sie die formale und sprachliche Gestaltung der Gedichte.). Auf den  Inhalt muss beim sprachlich mehrfach schräg formulierten  Schreibauftrag 3 im Rahmen des Vergleichs (Deuten Sie die beiden Gedichte vergleichend im Hinblick auf die Beziehung zwischen Mensch und Natur.) sowieso eingegangen werden, und zwar genauer als das beim ersten, der ihn „kurz wiedergeben“ soll, geschehen kann. Und die Analyse der formalen Qualitäten der beiden Texte, auf die, wenn es sinnvoll ist,  ein paarmal hingewiesen werden wird, trägt zur Erarbeitung dessen, was in beiden Texte hinsichtlich der „Beziehung zwischen Menschen und Natur“ zu vergleichen wäre, kaum etwas bei.

Viele weitere Beispiele für den unprofessionellen Umgang mit auf die Literatur bezogenen Aufgabenstellungen können auf meiner Homepage [Anmerkungen zum System der SRDP / Vorschläge zu seiner Verbesserung  2022] und in der Online-Ausgabe meines Lehrwerkes Deutschmatura jetzt (Hölzel Verlag 2021 S. 169) nachgelesen werden. Es ist schwer auszumachen, welcher Mangel schwerer wiegt: die vielfach nachgewiesene Unfähigkeit  zu verstehen,  worum es in einem literarischen Text geht, oder das   auf Trivialisierung hinauslaufende Verständnis literarischer Texte, wonach  diese auch unter Außerachtlassung ihrer Kontextbedingungen und Bedeutungsdimensionen bearbeiten werden können.

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Zum Haupttermin des Schuljahres 2021/2022 am 5. Mai 2022 sollten die folgenden zwei „Jahreszeiten“-Gedichte im Hinblick auf die Beziehung zwischen Mensch und Natur  verglichenwerden: 

Die Kommunikationssituation beim Text von Brecht stellt sich so dar: Eine nicht näher identifizierbare Person, sie spricht über das Personalpronomen wir für alle ihre Zeitgenossen, macht sich Gedanken über die Beziehung und den Zugang von uns Menschen zur Natur.  Dieser habe sich  im Laufe der von der durch Stahlproduktion und Petrochemie vorangetriebenen und auf die Lebensführung von uns Menschen ausstrahlenden Industrialisierung grundlegend verändert. „Lange“ vor dem Einsetzen dieser Prozesse (V 1; eine genauere Datierung gibt der Text zwar nicht her, aber mitgemeint dürfte der spätestens seit dem 19. Jahrhundert beschleunigte Prozess der Veränderung zwischen den Produktionsverhältnissen und Produktivkräften des Menschen sein) sei das „Frühjahr“ von uns Menschen angesichts der Innovationsgewissheit und -dynamik der Naturvorgänge noch gefeiert worden. Von dieser ehemals (auf verschiedenste Weise) „gefeierten Jahreszeit“ (V 11) würde man heute (1928 zur Zeit, als das Gedicht geschrieben worden ist) nur mehr in Büchern lesen können (V 10).  Einen Abglanz des in früheren  Zeiten (angeblich)  unmittelbaren Naturerlebens „Frühjahr“ („unaufhaltsam und heftig grünende Bäume […]Verlängerter Tage / Helleren Himmels / Änderung der Luft […] berühmte […] Schwärme der Vögel (V 4, 6-8) könne  das „Volk“ (V 16) nur mehr insofern erfahren, als es  diesen herrlichen Frühling „sitzend in Eisenbahnen“ (V 15)  im Vorüberfliegen der Landschaft wahrnimmt. Entfremdung also angesichts solch technologischer und – wohl mitgemeint –  industrieller Ausbeutungsverhältnisse der „Natur“. Als Quintessenz dieser Veränderung in der Beziehung des Menschen zur Natur  wird  am Ende des Textes  das Ersetzen des nicht mehr stattfindenden „unmittelbaren“ Naturerlebnisses durch das bloße Registrieren von Naturprozessen durch Messapparate herausgearbeitet (Stürme, die nur mehr unsere Antennen berühren, V20f). Brechts Text fokussiert also –  in leicht ironisierendem und zugleich leise melancholisch-wehmütigem Tonfall – die epochalen Folgen des Prozesses der ausbeuterischen Moderne auf die Wahrnehmung der Menschen (V 15, 22).

Festgehalten werden muss insbesondere Folgendes: Für dieses „Wir“, Bertolt Brecht wird Anteil an ihm haben, ist die Beziehung von uns Menschen zur Natur etwas, das in Abhängigkeit von Arbeits- und Wirtschaftsprozessen gedacht und kritisch, auch ein bisschen wehmütig (V 10: Noch lesen wir in  Büchern; V 12f: die schon lange nicht mehr gesichteten berühmten Schwärme der Vögel) verfolgt wird. Brechts prosanahes Gedicht hat einen essayistischen Tenor: Denn die von Brecht gemachte Beobachtung über den bedauerlichen Zustand der modernen Welt wird nicht in Form eines den herkömmlichen lyrischen Verfahrensweisen entsprechenden Textgebildes mitgeteilt (keine Strophen und Reime; Assonanzen V 16 und  insgesamt  rhythmischer Fluss nicht ausgeschlossen), sondern in Form thesenhaft hingestellter Behauptungen. Da sind Auswirkungen auf eine neue, vielleicht sogar ironisierende Bedeutung des Jahreszeiten-Begriffes Frühjahr (so im Titel) nicht ausgeschlossen, wenn damit eine erst anhebende Epoche des menschlichen Fortschritts konnotiert wird, nämlich  die einer prekären Moderne.

Wie die Beziehung von den Zeitgenossen, in deren Namen Brecht spricht, oder gar die des  in den Zügen in die Fabriken zur Arbeit anrollenden  Volkes zur Natur tatsächlich  aussieht, dazu gibt der Text allerdings nichts her. Das dürfte aber auch nicht die Absicht des Autors gewesen sein. Brecht kümmerte sich offensichtlich nicht um eine empirische, sozialgeschichtlich oder ethnologisch fundierte bzw. nachweisbare Beschreibung jenes angeblich unmittelbaren bzw. noch nicht entfremdeten,  womöglich sogar naturgegebenen Naturerlebens vor der in grauer Vorzeit einsetzenden Industrialisierung. Brecht rückt anderes in den Mittelpunkt: Die jahreszeitlich Bedeutung des Frühjahrs wird, so der Salzburger Germanist Karl Müller,  überlagert von einem anderen „Frühjahr“, nämlich der anbrechenden „Epoche der gefühls- und bewusstseinsmäßigen Natur- und Wahrnehmungsentfremdung im Zuge blinden Moderne- und Fortschrittwahns und Zivilisationsfetischismus“. Insofern könne man Brechts Prosagedicht nicht nur als frühen sprachkritischen poetischen Beitrag – Stichwort „Frühjahr“ – lesen, sondern im Kontext seiner sich gerade im Verlaufe der 1920er Jahre formierenden materialistischen Gesellschaftsauffassung auch als ein Warngedicht vor den Folgen blinder, letztlich feindlicher Naturausbeutung. Seine Sensibilität für epochale Umbrüche zeige sich in den letzten vier Verszeilen (V. 19 – 22), wenn er die weiterhin nicht sistierte und virulente Natur und die sich zur Vorherrschaft aufschwingende Zivilisation mit kritisch beobachtendem Blick zusammenführt und dabei das „Wir“ nicht aus seiner Verantwortung entlässt: „In großer Höhe freilich / Scheinen Stürme zu gehen: /Sie berühren nur mehr / Unsere Antennen.

Studenten und Studentinnen der Germanistik mögen auf dem Level eines Proseminars unter fachkundiger Anleitung und dem Angebot der Sekundärliteratur mit der Komplexität dieses Textes zurechtkommen, Schüler und Schülerinnen mit dem Wissen über Literaturgeschichte und Literaturtheorie einer Maturaklasse können das nicht. Die in der Info-Box  zu Bertolt Brecht als „Hilfestellung“ gedachte Auskunft „deutscher Schriftsteller“ (1898 – 1956) ist schlichtweg erbärmlich.

„Der Mensch“, nach dessen Naturbeziehung im Gedicht von Kaschnitz gefragt wird, ist ein lyrisches Ich, das die „Erde“ (V 1, 9, 21) in seiner erinnerten Erscheinung im Monat „Juni“ besingt. Anders als bei Bertolt Brecht 1928, bei dem das angeblich unmittelbare Naturerleben der Menschen bereits in die Vergangenheit gerückt ist und das „Frühjahr“ als „gefeierte Jahreszeit“ nur mehr als Bericht darüber in Büchern aufscheint, kennt das lyrische Ich bei Kaschnitz eine solche Naturfeier noch selbst – im Zeichen der Schönheit. „Schön“, so lautet das erste Wort dieses bis auf das Fehlen des Reimes formal traditionellen Gedichtes.

Um eine Naturfeier handelt es sich bei Kaschnitz allerdings nicht in jenem platten Sinn, dass sich dieses lyrische Ich im Naturraum auf enthusiastische Weise verhalten würde (z. B. barfuß über eine Wiese tanzen, sinnentrunken an Blumen riechen, starke Allverbundenheitsgefühle erleben, wie es etwa die traditionelle Bukolik seit der Antike zeigt). Stattdessen ist – in allen Strophen und in fast allen Verszeilen – von einer einzigartigen und starken Erinnerung an ein überwältigendes Schönheitserlebnis die Rede, das – mit Rückgriff auf die Bildbestände der Rhetorik –  gekonnt nachgestaltet wird. Also ein Lobpreis der Schönheit dieses Planeten im Kleinen und Großen, zu dem Kaschnitz, wie sich das offenbar für ihr Selbstverständnis als Lyrikerin gehört, alles aufbietet, was an Schönem nur zu haben ist,  dabei  die irdischen Bezüge transzendiert  und sich auch der Magie  der kosmischen Bezüge öffnet.

Während bei Brecht das Frühjahr als gefeierte Jahreszeit nur mehr als Bericht darüber  in Büchern aufscheint, ist das angeblich seiner  Generation verloren gegangene unmittelbare Naturerleben von Marie Luise Kaschnitz, die ihr Gedicht zwischen 1932 und 1937 in  Ostpreußen geschrieben  hat, also etwas später als Brecht,  bestens bezeugt. Laut einer von Ute Andresen in ihr  Buch >Versteh mich nicht so schnell, Gedichte lesen mit Kindern<  (1992) aufgenommenen  Selbstaussage von Kaschnitz war die Autorin in ihren Jahren in Königsberg „von der Natur bis zur Besessenheit angerührt worden […]“ (zitiert nach: Robert Gernhardt, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993).  Naturerlebnisse dieser Intensität müssen wohl der kreative Kontext für das Jahreszeiten-Gedicht Juni gewesen sein.

Dem Gedicht selbst lässt sich allenfalls entnehmen, dass sie jenem Erlebnis, das sie jüngst gehabt hat (V 1), Ausdruck verliehen hat. Das, was sie dabei ausdrückt, ist die in sprachlich-literarische Form gebrachte Erinnerung daran. Von Interesse ist auch, dass die Autorin in ihrem Gedicht auf den Reim verzichtet, obwohl gerade der Reim traditionell als klanglicher Schönheitsschmuck eines poetischen Gebildes galt, vielleicht aus dem Gespür heraus, dass sie diesen Zusatz für ihren Schönheitshymnus gar nicht braucht. Eine Aussage über DIE Beziehung des Menschen zur Natur lässt der Text überhaupt nicht zu, außer dass das Gedicht die vergegenwärtigte einzigartige Schönheits-Faszination eines Menschen mitteilt und dies in zahlreichen Bildern, die das Schöne der Erde imaginieren.

Die Aufgabensteller verkennen also den thematischen Schwerpunkt beider Texte. Wie weit sie davon entfernt sind, kann man an ihren Kommentaren zu den beiden Gedichten nachlesen, die auf der Homepage des Ministeriums (www.srdp.at)  eingesehen werden können. Da die mit der Beurteilung der Maturaarbeiten  beauftragten Lehrer und Lehrerinnen an den Schulen die Texte von Brecht und Kaschnitz (genauso wie die Maturanten und Maturantinnen) am Tag der Matura zum ersten Mal zu Gesicht bekommen, sind sie für die Kollegenschaft eine willkommene erste Orientierung für das Verständnis der Texte und der Aufgabenstellung. Da wiegt es dann um so schwerer, wenn die Kommentare  bei allen drei Schreibaufträgen eine falsche Spur legen.

Gemäß der Konzeption der Zentralmatura Deutsch stellt das Ministerium den Maturanten und Maturantinnen relativ ausführliche Texte (sogenannte Textbeilagen) zur Verfügung, auf die sie sich beziehen, deren Inhalt sie aufgreifen und mit dem sie sich auseinandersetzen müssen, damit auf diese Weise Leserbriefe, Erörterungen, Kommentare und sogenannte Meinungsreden entstehen. Viel zu oft besteht die Leistung der Kandidaten und Kandidatinnen dann in nichts anderem als im geschickten Paraphrasieren von bereits vorgegebenen Inhalten. Auf eine solche Hilfestellung müssen die Kandidaten und Kandidatinnen verzichten, die sich eines literarischen Textes annehmen. Denn der ihnen vorgelegte Kurzprosatext, das Gedicht oder die Dramenszene ist für das Schreiben der Interpretation schon die ganze Textbeilage. In der sogenannten Info-Box gibt es freilich noch lächerlich knappe und triviale Auskünfte über die Lebensdaten des Autors, der Autorin und deren Nationalität, und allenfalls werden Erklärungen zu Begriffen im literarischen Text angeboten, von denen angenommen wird, dass sie außerhalb des Erfahrungshorizonts der Schülerschaft liegen.  Informationen aus der Sekundärliteratur oder vergleichbaren Quellen, die den Zugang zu einer Interpretation erleichtern, vergleichbar den zur Verarbeitung angebotenen Textbeilagen aus den Medien, wie das  für das Abfassen von Leserbriefen, Erörterungen, Kommentaren und sogenannten Meinungsreden selbstverständlich ist: Fehlanzeige. Dahinter steht das Dogma, dass eine Interpretation auf Maturaniveau auch dann – sinnvoll, wie man glaubt –  erarbeitet werden kann, wenn die Befassung mit dem literarischen Text ohne den Bezug auf  seine Entstehungsbedingungen (des Autors, der Epoche usw.), also ohne literaturgeschichtliches und literaturtheoretisches Wissen angegangen wird. Dass auf diese Weise die Dimensionen literarischer Texte unzulässig verkürzt und der Umgang und die Auseinandersetzung mit Literatur trivialisiert werden, ficht die diesem Glaubenssatz verpflichteten Didaktiker, die eine solche Konzeption der Textinterpretation zu verantworten haben, nicht an. Sie sind der Auffassung, dass sie durch die Zurverfügungstellung der  Operatoren (den nur minimalistisch definierten Schreibaufträgen, die sinnvoll zu handhaben erst  der Kollegenschaft an der Basis überlassen worden ist) und den Formatierungsvorgaben, die bewirken, dass jeder Text von Bregenz bis Wien zur Konfektionsware von der Strange wird, schon alles geleistet haben. Konsequent ist es  dann auch, wenn die Auswahl von literarischen Texten, zu denen  eine Textinterpretation geschrieben werden soll, von dem Grundsatz bestimmt ist, die Schüler:innen nach Möglichkeit mit Texten zu konfrontieren, die sie in ihrem Deutschunterricht noch nie gesehen haben. Das Handwerkszeug für eine solche triviale Form der  Interpretation hat man ihnen beigebracht, Literaturgeschichte und Literaturtheorie muss nicht zur Matura mitgebracht werden, daher ist auch keine Hilfestellung von Informationen aus der Sekundärliteratur oder ähnlichen Quellen erforderlich.

Was Brecht betrifft, so stellt sich die Sachlage folgendermaßen dar. Ohne eine solche Hilfestellung, was, wie gesagt, die Aufgabensteller (die sogenannten item writer ) grundsätzlich ausschließen, stellt sein dichter Text eine enorme interpretative Herausforderung dar für jeden und jede, die zum ersten Mal mit ihm konfrontiert wird und noch nie etwas mit ihm zu tun hatte, was ja fatalerweise zur Ideologie der schriftlichen Zentralmatura gehört, und Maturanten und Maturantinnen in ihrer Prüfungssituation überfordert. Wie sollen sie  ohne Informationen über einige produktions- und publikationsrelevante Kontexte auf eine tragfähige Interpretationsspur kommen? Die Bearbeitung dieses Gedichtes muss flach bleiben, wenn man zum Beispiel nichts darüber weiß,  dass in der von den item writern zitierten Ausgabe der Brecht-Gedichte nur zwei Seiten weiter das Gedicht 700 Intellektuelle beten einen Öltank an abgedruckt ist. Dieser Text wurde zum ersten Mal in der Satire-Zeitschrift Simplicissimus abgedruckt, der führenden Satire-Zeitschrift der 20er Jahre, und gehört inzwischen zum Kanon der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. In ihm geißelt Brecht die quasi-religiöse Inbrunst, mit der die Technik des kapitalistischen Aufschwungs der 20er Jahre in der Neuen Sachlichkeit verteidigt wird (so Jan Knopf im Brecht-Handbuch Lyrik, Prosa, Schriften, S. 69); so dass Brechts Text Über das Frühjahr (1928) gleichsam als Vorläufer gelesen werden kann.

Analoges gilt für das Gedicht von Marie Luise Kaschnitz. Auch hier ist die Fragestellung, die den Maturanten/innen zugemutet wird  – „im Hinblick auf die Beziehung zwischen (sic!) Mensch und Natur“ –  mehr als fragwürdig. Auch bei Kaschnitz geht es nicht vorab um diese Dimension, sondern um die sprachlich-literarische Vermittlung der erinnernden Vergegenwärtigung eines schönheitstrunkenen, aus jeglicher Kontinuität der Erfahrung herausgenommenen Augenblickerlebnisses. Die Fragestellung schrammt erneut an dem sogenannten Analyseobjekt poetischer Text vorbei. Es geht eben nicht pauschal um die „Beziehung zwischen Mensch und Natur“ [wohl besser: „Beziehung des Menschen zur Natur“], sondern offensichtlich um ein Menschenwesen der europäischen Welt am Meer, das anonym bleibt und in diesem Fall wohl ganz eng mit der Erfahrungswelt der Autorin selbst verquickt ist, das sich motiviert fühlt, diese Erfahrung – ganz in der Tradition der literarischen Beschwörungen von Naturschönheit seit der Antike als Gegensatz zur Prosa des Alltags – mitzuteilen.

Zusammengefasst stellt sich somit die Frage, was da im Bildungsministerium im Rahmen der so gerühmten Evaluierungsschleifen, welche die handwerkliche Qualität der Aufgabenstellungen garantieren sollen, eigentlich geleistet wird. Den inhaltlichen Kern und den thematischen Schwerpunkt literarischer Texte zu verstehen, wäre wohl das Mindeste, was man von Germanisten, die es an die Spitze einer Abteilung im Ministerium gebracht haben, erwarten darf.

 

Anmerkungen zum System der SRDP 

Vorschläge zu seiner Verbesserung


geschrieben 2021 (Kurzfassung ide 2022, Heft 1,S.122f.)

Im Mai 2013 haben zum ersten Mal AHS-Abschlussklassen auf freiwilliger Basis an der  Zentralmatura teilgenommen, seit dem Schuljahr 2014/15 schreiben alle AHS-Schüler:innen, ein Jahr später (2015/16) auch die der BHS und seit Mai 2017 auch die Teilnehmer:innen der Kurse für die Berufsreifeprüfung und Lehre mit Matura  die schriftliche Reifeprüfung nach dem System der standardisierten Zentralmatura Deutsch. In diesen Jahren sind  von den Aufgabenstellern/innen auf die anfänglich neun, 2017/18 auf sieben reduzierten Textsorten verschieden verteilt, insgesamt 132 Aufgabenstellungen (Stand 13. 1. 2022) formuliert und von der Lehrerschaft beurteilt worden. Zu einigen Aspekten der Standardisierung sind immer wieder einmal kritische Anmerkungen gemacht worden, die auch von den Medien aufgegriffen worden sind. Auf jeden Fall haben sich seither   viele Erfahrungen angesammelt, anhand derer man die Qualität des Systems der SRDP in der derzeitigen Form diskutieren sollte.

Meine Stellungnahme, die auf den Erfahrungen im Umgang mit den Reifeprüfungen vor und nach der Einführung der SRDP beruhen und zu einem Lehrbuch im Hölzel Verlag (Deutschmatura jetzt 2021; print und online) geführt haben, geht erstens davon aus, dass das Ministerium derzeit am System der vielfachen Formatierungen und der verpflichtenden Bearbeitung von Textbeilagen festhalten wird, auch an einem Verständnis von Literatur, das die schriftliche Auseinandersetzung mit ihr trivialisiert, indem es den poetischen Text mit seinen    vielfachen Bedeutungsdimensionen ohne jeden Kontextbezug bearbeiten lässt. Sie geht zweitens aber auch davon aus, dass sich an diesem System manches verbessern lässt und verbessert werden muss, wenn die Konzeptoren der SRDP ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden wollen.

Inhaltsverzeichnis

A Anmerkungen zu den Textsorten

B Anmerkungen zur Handhabung der Operatoren im Kontext der Schreibaufträge

C Anmerkungen zur Themenauswahl; Folgen der Formatierungen

D Vorschläge, wie eine reformierte SRDP zu mehr Selbsttätigkeit führen könnte

A Anmerkungen zu den Textsorten

Textsorte „Zusammenfassung“

1.1. Definition

Das Ministerium definiert die „Zusammenfassung“ als eine Textsorte, die auf die Komprimierung einer (oder mehrerer) Textbeilage/n […] gerichtet ist. Ihr Zweck wird in der Wiedergabe von relevanten Informationen und der logisch-sachlichen Struktur* unter vorgegebenen Gesichtspunkten** gesehen.

*Die logisch-sachliche Struktur einer Textbeilage kann (muss aber nicht) nach dem Muster der klassischen Zusammenfassung berücksichtigt werden. Die “Wiedergabe“ von Ordnungsgesichtspunkten sollte freilich nicht die Qualität einer Textanalyse annehmen, sondern sich  auf das Allernotwendigste für einen Überblick beschränken. Bei den Aufgabenstellungen der SRDP musste noch bei keiner einzigen Matura (Stand 13. 1. 2022) die logisch-sachliche Struktur wiedergegeben werden. Diese Aufgabe darf man getrost der Textanalyse überlassen.

** Was in der Definition des Ministeriums mit dem Satzteil unter vorgegebenen Gesichtspunkten verstanden werden soll, ist unklar.

zu 1.1.  Anmerkungen:

1.1.1. Diese Textsortenbestimmung verlangt etwas, was beides zusammen nicht erreicht werden kann. Das Komprimieren einer Textbeilage und das Wiedergeben relevanter Informationen schließen einander aus. Die Wiedergabe ist das Gegenteil einer Verdichtung (siehe 1.2.2.)

1.1.2. Bei den Aufgabenstellungen im Rahmen der SRDP richtet sich das Erkenntnisinteresse der Aufgabensteller nicht auf die gesamte Breite des Inhaltes der Textbeilage, sondern auf Aspekte, die sie selbst für relevant halten.  Eine „Zusammenfassung“, die über die Befolgung der Schreibaufträge der SRDP entsteht, kann daher keine Verdichtung (kein Komprimieren) der gesamten Textbeilage sein. Für die Schüler:innen bedeutet das: Sie müssen andere inhaltliche Aspekte der Textbeilage als die von den Schreibaufträgen erfassten bei Seite lassen (können).

1.2. Bei den Schreibaufträgen der SRDP zur „Zusammenfassung“ werden regelmäßig die Operatoren beschreiben und wiedergeben eingesetzt.

1.2.1.  Bei der  Schreibhandlung beschreiben geht es darum, dass  sich  Leser:innen der „Zusammenfassung“ ein Bild von einem Objekt machen können. Beschreibungen sind mit anderen Worten nichts anderes als verbale Ersatzmittel für Bilder, Filme und Vorführungen. Wenn die Beschreibung den Gegenstand identifizierbar machen soll, wird das sicher nicht über ein Komprimieren erreicht.

1.2.2. Das Gleiche gilt für den Operator wiedergeben. Das Wesentliche dieser Schreibhandlung besteht in der inhaltlich unveränderten, sprachlich kenntlich gemachten Übertragung bestimmter Informationen aus der Textbeilage in den  neuen Zusammenhang der „Zusammenfassung“. Eine solche Wiedergabe  ist das Gegenteil einer Verdichtung.

1.3. Die „Zusammenfassung“ der SRDP ist eine Textsorte sui generis.

In der Realität der Aufgabenstellungen mutiert die als Zusammenfassung bezeichnete Textsorte der SRDP demnach zu einer Textsorte sui generis. Die so entstandene neue Textsorte könnte die Bezeichnung >Auftragsgemäße Zusammenstellung von Informationen aus Textbeilagen< erhalten. Der Einleitungsteil dieser Textsorte sui generis muss allerdings nach wie vor wie eine traditionelle Zusammenfassung gestaltet werden, also auf den Titel, den  Autor/die Autorin, das Medium und auch den Kern des Textes Bezug nehmen. Zu diesem  gehören oft mehrere inhaltliche Aspekte einer Thematik, die angetippt werden müssen, wenn der Anspruch der überblicksweisen Orientierung über den Inhalt eines Textes eingelöst werden soll.    Im Hauptteil der „Zusammenfassung“ bzw. der auftragsgemäßen Zusammenstellung von Informationen bleiben sie dann unberücksichtigt, weil die Schreibaufträge eben andere inhaltliche Aspekte favorisieren.

1.4. Streichen der „Zusammenfassung“ aus dem Kanon?

Im Hinblick darauf, dass bei allen Textsorten als Basis für die weitere Bearbeitung der Schreibaufträge ebenfalls die Operatoren beschreiben und wiedergeben (von etwas in der Textbeilage) eingesetzt werden, womit die mit der „Zusammenfassung“ vergleichbare  auftragsgemäße Zusammenstellung von Informationen verlangt wird, muss die Frage gestellt werden, ob man die Sonderstellung der „Zusammenfassung“ als eigene Textsorte rechtfertigen kann.

1.5. Operator erschließen hat bei keiner Zusammenfassung etwas verloren.

Neunmal bei bisher 21 „Zusammenfassungen“ (Stand 13. 1. 2022) ist als 3. Operator der Schreibauftrag erschließen erteilt worden. Der Festlegung des Ministeriums zufolge geht es dabei darum, etwas nicht explizit Formuliertes aus einem Text zu ermitteln und darzulegen. Das bedeutet, dass das, was da erschlossen wird, dem Maturanten/der Maturantin zugerechnet werden muss und nicht dem Autor des Textes, der „zusammengefasst“ wird. Dieses Erschließen widerspricht daher dem, was das Ministerium für seine Muster-Zusammenfassung festgelegt hat: eben keine eigenen Überlegungen und Schlussfolgerungen. Möglicherweise nimmt das Ministerium, weil sich diese Schieflage herumgesprochen hat, davon Abstand und verzichtet auf den Operator erschließen bei der „Zusammenfassung“. Darauf weisen die letzten Aufträge bei den „Zusammenfassungen“ hin, welche diesen Operator  nicht mehr eingesetzt haben. Eine Klarstellung seitens des Ministeriums wäre gut.

1.6. Für das Gesamtverständnis erforderliches Bildmaterial mitgeben

Wenn Maturanten und Maturantinnen bei einer Aufgabenstellung die Besonderheiten der  Fotografie von Simon Norfolk und seine Intentionen wiedergeben sollen (Termin 7. 5. 2019), müsste ihnen, damit sie sich eine gute Vorstellung von den von ihm fotografierten Kriegslandschaften machen können, speziell von der  vor den Toren Bagdads,  auch ein Bild dazu  vorgelegt werden  und nicht nur die bloße Textinformation, was auf diesem Bild zu sehen ist. Ein solches Bild in der Textbeilage ist ihnen nicht zur Verfügung gestellt worden.  

2. Textsorte Leserbrief

2.1. Systemfehler

Die Aufgabenstellungen beim Leserbrief leiden an einem Systemfehler, der mit der langen Vorlaufzeit zu tun hat, bis aus einem Aufgabenvorschlag aus der Lehrerschaft wirklich eine vom Ministerium abgesegnete Themenstellung wird (oft mehr als zwei Jahre).  Die Kandidaten und Kandidatinnen sollen bei den bisher 19 zu schreibenden Leserbriefen (Stand 13. 1. 2022) auf einen Text aus den Medien reagieren, der, gleich ob in der Printausgabe oder im Netz, zeitlich sogar bis zu drei Jahre, beim Maturatermin 17. 9.  2020 sage und schreibe sechs (!) Jahre zurückliegt. Das ist eine Situation, in der weder ein Bürger/eine Bürgerin auf einen nicht mehr aktuellen Anlass mit einem Leserbrief Bezug nimmt noch eine Redaktion einen Leserbrief, wenn sie einen solchen erhalten würde, berücksichtigen wird. In der derzeitigen Form der Aufgabenstellung müsste ein Leserbriefschreiber/eine Leserbriefschreiberin im Einleitungsteil auf diese Besonderheit aufmerksam machen und die verspätete Stellungnahme mit dem Hinweis begründen, dass die im Medium berichtete Thematik immer noch oder schon wieder eine aktuelle ist, die eine Bezugnahme auch nach Jahren rechtfertigt. Das Gleiche gilt für die Leserreaktion auf einen Online-Artikel.

Bezüglich der Online-Ausgaben von Textbeilagen, zu denen ein “Leserbrief“ geschrieben werden soll, müssten die Aufgabensteller folgende Umstände berücksichtigen: Die Zeitungen bieten heutzutage Zusatzinformationen zur Printausgabe online an, die sie dort aus Platzgründen nicht unterbringen können. Auch darauf reagieren Leser und Leserinnen, allerdings nicht mit den für einen traditionellen Leserbrief üblichen und bei der Matura zu berücksichtigenden Formalitäten (Kurzform: Ich nehme Bezug auf den Artikel vom … von X, zu dem ich wie folgt Stellung nehme. …), sondern mit einem Text, der unter Namensnennung des Lesers ohne jede Einleitung von der Zeitung dann an den Online-Artikel angehängt ins Netz gestellt wird.

Voraussetzung für den Abdruck eines Leserbriefes in der Printausgabe und dafür, dass das Medium eine Stellungnahme eines Lesers zu einem Online-Zusatzangebot ins Netz stellt, ist demnach die relativ rasche, das heißt in einem sinnvollen zeitlichen Abstand vorgetragene Reaktion des Mediennutzers. Texte, die nach zwei, drei, ja sogar sechs Jahren nach ihrer Publikation im Medium publiziert worden sind, haben keine Chance auf ihre Veröffentlichung. Die Aktualität eines Inhaltes, auf den Bezug genommen wird, ist in der Welt der Medien nur von kurzer Dauer.

Wie unter diesen Umständen das System der Aufgabenstellung (traditioneller Leserbrief für die Printversion oder kommentierender Anhang an einen online publizierten Artikel) verändert werden muss, damit die Schreibsituation den realen Verhältnissen (Beziehung Medium zu seinen Nutzern) entspricht,  müssen die herausfinden, die sich diese Textsorte für die Zentralmatura ausgedacht haben.

2.2. Nur beim Leserbrief: Bezug zur Textbeilage folgt der „Natur der Sache“

Abgesehen von der schwer  lösbaren Problematik der zu langen Vorlaufzeit ist der Leserbrief die einzige Textsorte, bei der das Eingehen beim ersten Operator auf eine Textbeilage aus den Medien aus der Natur der Sache folgt und nicht wie bei den anderen argumentativen Textsorten eine ziemlich befremdliche Angelegenheit darstellt. Bei der Erörterung, dem Kommentar und der Meinungsrede bedarf die Bezugnahme auf die Textbeilage unmittelbar nach dem Einleitungsteil einer speziellen Erklärung, damit für einen Leser überhaupt verständlich wird, warum der Maturant/die Maturantin das jetzt tut. Ich gehe davon aus, dass Schüler/Schülerinnen der Oberstufe einer besonderen didaktischen Unterweisung bedürfen (und eine solche Hilfe auch bekommen), wie unter diesen Umständen ein sinnvoller Zusammenhang  hergestellt werden kann. Dieser kann ja wohl nicht darin bestehen anzuführen, dass er/sie die Bezugnahme auf die Textbeilage  eben auftragsgemäß so zu erledigen hat.

2.3. Scheinbare Wahlfreiheit bei der Aufgabenstellung vermeiden

Im Übrigen geben die Aufgabensteller:innen den Maturanten/innen das, was sie in der Auseinandersetzung mit der Textbeilage zu behandeln haben, natürlich vor. Er/sie ist also fremdbestimmt. Die item writer scheuen aber nicht davor zurück, den Maturanten/die Maturantin in den Glauben zu versetzen, er/sie könne den Akzent seines/ihres Leserbriefs selbst bestimmen, also setzen, wie sie wollen. Beim Termin 5. 5. 2014 (Heimatkunde für Kinder in der Fremde) räumen sie ihm/ihr scheinbar diese Freiheit ein, wenn sie beim ersten Operator verlangen Benennen Sie in wenigen Sätzen die für Sie relevanten Sachverhalte, auf die Sie sich in Ihrem Leserbrief beziehen möchten, dann aber etwas untersuchen (2. Operator) und bewerten (3. Operator) lassen, was sich mit seinem/ihrem Bearbeitungsansatz nicht unbedingt decken muss (vgl. dazu Deutschmatura jetzt Seite 43/2: letzter Link und dort Musterlösung Seite 1; gut gelöst ist das beim Leserbrief-Beispiel zum Termin 18. 9. 2019, weil die eingeräumte Wahlfreiheit für eine Stellungnahme nicht in Konflikt gerät mit den beiden anderen Schreibaufträgen).

3. Textsorte Kommentar

3.1. Kommentar nur mehr in kurzer Form (230 – 270) beauftragen?

Wenn bei bisher 25 Kommentaren (Stand 13. 1. 2022)   immerhin zehn in der mittellangen Form (405 – 495 Wörter; alle anderen 230 – 270) und bei bisher 20 Erörterungen (Stand 13. 1. 2022) vier in der mittellangen (16 in der Langform von 540 – 660) aufgegeben werden, muss der Hinweis erlaubt sein, dass sich der Kommentar in der mittellangen Form  trotz des für ihn charakteristischen  Operators bewerten kaum mehr von der mittellangen Erörterung  unterscheiden wird. Dazu passt die anlässlich des Wegfalls der Textsorten Empfehlung und Offener Brief an die Lehrerschaft ergangene Mitteilung des Ministeriums (BMB/-Newsletter  zur SRDP/BRP vom 26. 9. 2017; Gründe für den Wegfall wurden keine genannt), dass für die Einübung  von Textsorten die Kompetenzen, die für die Realisierung einer bestimmten Schreibhandlung erforderlich sind, grundlegender seien als die Textsortenkompetenz. So gesehen spielt es wirklich keine Rolle mehr, welches Textsortenetikett einer Schreibaufgabe vorangestellt wird. Besonders schrägt mutet es trotzdem an, wenn bei  einem Kommentar in der Kurzversion der Operator sich auseinandersetzen mit (19. 9. 2016) eingesetzt wird. Im Übrigen lässt sich die vom Ideal-Kommentar verlangte rhetorische Zurichtung bei der Kurzform leichter bewerkstelligen.

3.2. Kein ich beim Kommentar?

Geradezu abenteuerlich und für die psychohygienische Entwicklung der jungen Staatsbürger:innen deprimierend mutet es an, wenn das Ministerium in paternalistischer Verstiegenheit den Maturanten und Maturantinnen verbietet, beim Kommentar das Personalpronomen ich einzusetzen. Genaueres dazu Deutschmatura jetzt S. 168.

3.3. Für das Gesamtverständnis erforderliches Bildmaterial mitgeben

Eine vergleichbare Problematik wie bei einer Zusammenfassung liegt vor, wenn bei einem Kommentar nicht vorhandenes Bildmaterial (die Privatsphäre und die Menschenwürde verletzende Bilder von Unfalltoten in Printmedien), über das in der Textbeilage nur gesprochen wird, als  Basis für eine Stellungnahme ausreichen muss (Maturaaufgabenstellung 19. 9. 2016 Themenklammer: Journalistische Verantwortung; Thema: Was dürfen Bilder zeigen?).

4. Textsorte Erörterung

4.1. Dialektik des Operators sich auseinandersetzen mit aufgeben?

4.1.1. Seit der Standardisierung und dem Einsatz der Operatoren aus den drei Anforderungsbereichen ist die Dialektik-Variante bei der Erörterung praktisch aus den Aufgabenstellungen verschwunden (Stand 13. 1. 2022: 20 Erörterungen). Dadurch entsteht eine Diskrepanz der immerhin noch auf Dialektik ausgerichteten Definition der Schreibhandlung sich auseinandersetzen mit/diskutieren, die den Kern der Erörterung darstellt, und der Praxis. In den Kommentaren der item writer wird auf die Synthese in dem Schreibabschnitt, in dem die Auseinandersetzung stattfindet,  verzichtet, und nur mehr das bloße Gegenüberstellen von positiven und negativen Aspekten sowie ähnlichen Kategorien verlangt.

4.1.2. Auch die nach der Auseinandersetzung im 2. Schreibabschnitt in den 3. Schreibabschnitt verschobene und mit dem Operator Stellung nehmen beauftragte Schreibhandlung kann keine solche Synthese sein, wenn damit ein neuer thematischer Schwerpunkt ins Spiel kommt (Matura vom 18. 9. 2019: Künstliche Intelligenz), oder wenn er laut Schreibauftrag sogar dialektisch abzuhandeln wäre, was seiner Definition nach gar nicht sein dürfte (Matura vom 18. 9. 2019: Künstliche Intelligenz; Matura vom 3. 5. 2017: Internet im Unterricht). Diese Verschiebungen  sind im Lehrwerk >Deutschmatura jetzt< (Hölzel Verlag auf Seite 133 in einer Tabelle zusammengestellt. Zurückzuführen sind sie  auf die Positionen und Argumente aus Textbeilagen, die in die Erörterung  eingearbeitet werden müssen. In der Realität der SRDP rückt diese Form der Erörterung ziemlich nahe an eine Texterörterung heran. Dies umso mehr, je weniger Raum den Maturanten/innen für die Entfaltung von eigenständigem Argumentieren geboten wird. Die Nähe zu einer Texterörterung erkennt man auch daran, dass der verlangte Operator sich auseinandersetzen mit bzw. diskutieren auf ein Beurteilen der Argumentation/en in einer Textbeilage hinausläuft (Beispiele: Termin 3. 5. 2017 Internet im Klassenzimmer, Link auf S 58/1 Deutschmatura jetzt; bzw. Termin 20. 5. 2021 Verzicht auf News? Musterlösung in >Deutschmatura jetzt< S. 116/59).

4.1.3. Es stellt sich die Frage, ob die Aufgabensteller/innen bewusst von dem klaren System der dialektischen Argumentation Abstand nehmen, weil sich die Erörterung damit zweifellos leichter bewältigen lässt, oder ob sich das Verständnis für Dialektik beim Argumentieren in der jungen Generation der Germanisten und Germanistinnen aufzulösen beginnt. Für den Schreibunterricht an den Schulen sollte rasch geklärt werden, ob die jetzt erleichterte Form der Erörterung als Standard gelten kann.

4.2. Operator diskutiern nicht mehr verwenden

Der zum Operator sich auseinandersetzen mit synonym verwendete Operator diskutieren verstößt gegen die Regeln der Verwendung dieses Verbums und sollte gestrichen werden.

4.3. Mehr Selbsttätigkeit ermöglichen

Auf die Problematik, dass Maturanten und Maturantinnen bei Auseinandersetzungen mit Textbeilagen die Argumente für die eine, aber auch die gegenteilige  Position zur Verfügung gestellt bekommen, wenig Raum vorfinden, eigene Überlegungen anzustellen, wird in einem separaten Abschnitt eingegangen. Dort werden auch die Textsorten Kommentar und Meinungsrede miterfasst, denn auch bei diesen sollte, jedenfalls wenn es um Argumentieren geht,  genauso wie bei der Erörterung Maturareife nicht darin bestehen, bereits vorhandenes Gedankengut nur zu paraphrasieren.

5. Textsorte Meinungsrede

5.1. Problematik des Begriffs

Der Begriff Meinungsrede, der nur im Zusammenhang mit der SRDP existiert, sollte reflektiert werden. Das Bestimmungswort Meinung im Kompositum ist kein besonders glückliches. Mit diesem Ausdruck  wird eine  Äußerung verbunden, der die erforderliche Qualität beim diskursiven Kommunizieren noch abgeht. Aus diesem Grund ist das Verbum meinen auch nicht in den Operatorenkatalog aufgenommen worden. Seinen mit ihm ungenügend ausgefüllten Platz nehmen richtigerweise Operatoren wie beurteilen, bewerten, sich auseinandersetzen mit oder Stellung nehmen ein. Es genügt eben nicht, etwas nur richtig, gut oder schlecht zu finden, man muss schon die Mühe auf sich nehmen, seine Position mit nachvollziehbaren Argumenten abzusichern. Daher ist der Begriff Meinungsrede, bei der genau diese Absicherung einer bloßen Meinung im Mittelpunkt steht, nicht besonders glücklich gewählt.  Er ist bisher auch nicht ins Österreichische Wörterbuch aufgenommen worden (43. Aufl. 2018), auch nicht ins Universalwörterbuch der deutschen Sprache der Duden-Redaktion (9. Aufl.). Warum also kann man bei dieser Textsorte nicht beim einfachen Etikett Rede bleiben? Die Ausstattung mit rhetorischen Figuren wird ja ohnehin auch bei der Meinungsrede, verlangt.

5.2. Überzeugen als Ziel der „Meinungsrede“?

Laut Bildungsministerium hat ein Redner/eine Rednerin auch die Absicht, sein/ihr Publikum von seiner/ihrer Meinung zu überzeugen. Es gibt bisher freilich keinen Schreibauftrag mit diesem Operator,  der etwa so lautet:  Überzeugen Sie Ihr Publikum von der Richtigkeit Ihrer Stellungnahme.Und das ist auch gut so. Mit dem Überzeugen ist das so eine Sache. Nur das Stellungnehmen hat der Schreiber/die Schreiberin selbst in der Hand. Man muss nichts anderes tun als Position  beziehen und diese begründen. Tut man dies (in mehreren Sätzen), dann hat man erfolgreich Stellung genommen. „Erfolgreich“ heißt in diesem Fall: Es ist eine Schreibhandlung vorgenommen worden, die von jedem als Stellungnahme identifiziert wird. Was mit einer Stellungnahme bewirkt wird, hat ihr Autor/ihre Autorin aber nicht in der Hand, auch nicht dann, wenn die zur Stützung der Position beigebrachten Argumente richtig sind. Die Wirkung der Stellungnahme kann darin bestehen, dass das Publikum (alle, ein paar?) von der Seriosität und  Glaubwürdigkeit der Argumentation überzeugt ist. Man kann als Redner mit dem Motiv sein Publikum zu überzeugen zwar anpeilen, hat das Erreichen dieses Ziels aber nie in der Hand. Außerdem ist es fraglich, ob sich ein Redner/eine Rednerin dieses Ziel überhaupt setzt. Oft genügt es ihm/ihr, seine/ihre Position einfach nur vorzutragen. Es ist also gut, dass das Überzeugen in der Realität der Aufgabenstellungen bei der SRDP als ein mögliches Schreibmotiv ausgeklammert bleibt. Als Operator würde es sowieso nicht taugen.

5.3. Situationsvorgaben

Eine Meinungsrede im Rahmen der SRDP schreiben und halten Schüler und Schülerinnen natürlich nicht für ein und vor einem physisch realen Publikum, etwa vor Juroren bei einem Redewettbewerb oder Schulveranstaltungen vor Eltern, Lehrkräften, Mitschülern und Mitschülerinnen, Jugendvertretern der politischen Parteien oder Politikern.  Nach dem Geheiß der Situationsvorgaben müssen sie aber so tun, als würden sie vor einem solchen Publikum als Redner auftreten. In der Oberstufe haben sie zwar gelernt,  dass eine Rede dann offene Ohren findet, wenn sie einen individuellen Zugang zu einer Thematik hat und die Persönlichkeit des Redners/der Rednerin spürbar wird, wozu auch gehört, dass sie ihre Unterlagen, mit denen sie sich vorbereiten, selbst bestimmen. Aber    jetzt bei der schriftlichen Matura  müssen sie diesen Zugang vergessen, sich in das Korsett der vielen Formatierungsvorgaben einpassen und sich von der Vorstellung nicht stören lassen, dass jetzt alle, die diese Textsorte gewählt haben, nach demselben Schema schreiben und sich auf dieselben Unterlagen (Textbeilagen) stützen werden. 

In der Realität, also vor einem physisch anwesenden Publikum, macht es der individuelle Zuschnitt einer Rede dem Publikum möglich, bei der Sache zu bleiben und mehrere Reden zum selben Thema hintereinander aufmerksam zu verfolgen. In der Realität kann man daher keinem Publikum der Welt Reden zumuten, die nach demselben Schema verfasst sind und bei deren Schriftfassung auf dieselbe Textbeilage eingegangen wird. Bei den vor einer fiktiven Zuhörerschaft gehaltenen Reden im Rahmen der SRDP sind es nicht wirkliche Juroren, Eltern, Mitschüler, Politiker usw., denen solche Reden zugemutet werden, sondern nur die Lehrkräfte, die all diese gleichgeschalteten Reden bis zur Fadesse begutachten müssen. Zu hoffen ist, dass die Maturanten und Maturantinnen im realen Leben, wenn sie wieder einmal als Redner ein Publikum vor sich haben,  den Formatierungsunfug schnell  vergessen und   wieder ihrer individuellen Gestaltungskraft vertrauen.

5.4. Meinungsrede und Bezugnahme auf eine Textbeilage am Beginn einer Rede

Speziell bei der Meinungsrede bedarf die Bezugnahme auf die Textbeilage einer Erklärung, damit für das Publikum überhaupt verständlich wird, warum der Maturant/die Maturantin jetzt darauf zu sprechen kommt. Nach der Begrüßung im ersten Operator die Textbeilage so ins Spiel zu bringen, dass damit ein  sinnvoller Gesamtzusammenhang hergestellt wird, dazu bedürfen Schüler/Schülerinnen der Oberstufe einer besonderen didaktische Unterweisung.

6. Textsorte Textinterpretation

6.1. Textauswahl und Infobox

Schaut man sich die Texte genauer an, die bei bisher 24 schriftlichen Reifeprüfungen (Stand 13. 1. 2022) vorgelegt worden sind, stellt man fest, dass schwerpunktmäßig  Texte von Autoren und Autorinnen aus dem 20. Jahrhundert und der Gegenwart vorgelegt werden und dabei mit wenigen Ausnahmen solche, von denen (vermutlich) angenommen wird, dass sie im Unterricht nicht schon behandelt worden sind (siehe dazu die Zusammenstellung aller Interpretationsaufgaben in >Deutschmatura jetzt< S. 9f).  Die vermutlich mit der  Beurteilungsgerechtigkeit im Zusammenhang stehende Überlegung: Niemand soll einen Vorteil haben, weil er/sie zufällig in den Text schon eingearbeitet ist.

Am weitesten in die Literaturgeschichte zurück reichen die Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel (1811: Termin 11. 1. 2017), ein Textvergleich (Gedicht Eichendorff Sehnsucht 1834 – Kurztext Kafka Der Aufbruch 1922: Termin 6. 5. 2013; [Kritik an der Aufgabenstellung >Deutschmatura jetzt< Link S. 149: S 3]; Termin 17. 9. 2020: Gedichtvergleich Eichendorff Einem Paten[kind]zu seinem ersten Geburtstage[1854] und Wolf Biermann Willkommenslied für Marie [1982] und ein weiterer Gedichtvergleich von zwei expressionistischen Gedichten (Alfred Wolfenstein: „Städter“ und Georg Heym: Die Stadt; Termin 9. 5. 2016).

Die Angaben in den Infoboxen sind so angelegt, dass sie grundsätzlich keine für die Interpretation bedeutsamen Angaben zu den Kontextbezügen enthalten. Zu den Gedichten von Wolfenstein und Heym beispielsweise werden nur die Informationen >expressionistische Dichter< und  die Zeit der Publikation angeboten (1911 bzw. 1914). Entweder geht das Ministerium davon aus, dass Maturanten und Maturantinnen über die Verfahrensweise der Lyrikproduktion in dieser Epoche  Bescheid wissen, ein Muss solche Kontextbezüge in die Interpretation einzubeziehen gibt es freilich nicht (siehe die Zusammenstellung der Bewertungskriterien zur Textinterpretation auf der Homepage des Ministeriums unter der Rubrik >Funktionen und Kontextbezug<: 3. Aufzählungspunkt). Oder, was wahrscheinlicher ist: Das Ministerium hält die Berücksichtigung von Kontextbezügen für eine zu vernachlässigende Fleißaufgabe und für gar nicht notwendig. Dann kann man zwar immer noch eine Infobox aufstellen, muss sie aber nur mit trivialen Informationen füllen. Einige Beispiele für ausgeblendete Zusammenhänge (von denen es überaus viele gäbe):

*Ausblenden des politischen Bezugs zur Entstehungszeit des Textes: Ohne Informationen zu Kontextbezügen kommt die Info-Box zum Text von Manfred Hausmann Die Schnecke aus (Termin 5. 5. 2014). Der Text mit seiner Rechtfertigung von Nazi-Ideologemen) soll/kann  also ausschließlich immanent interpretiert werden. Entweder sind die für die  Auswahl dieses Textes verantwortlichen Germanisten so naiv, dass sie die Ungeheuerlichkeit des Gehalts nicht begreifen und gar nicht auf die Idee kommen, Informationen zu diesem Autor, die es schon lang gibt, einzuholen und sie in der Info-Box zur Verfügung zu stellen, oder sie blenden diese  bewusst weg, weil sie meinen, dass  man den ganzen Text  auch vor der Folie der christlichen Erbsündenlehre lesen kann und er dadurch (angeblich) eine überzeitliche Bedeutung erhält (so jedenfalls im Kommentar für die Kollegen und Kolleginnen). Beide Möglichkeiten sind gleich beschämend und fallen letztlich in die Verantwortung des BIFIE zurück (culpa in eligendo). Es ist schon bemerkenswert, dass die Aufgabensteller:innen in ihrem Kommentar auf die Literatur der Nachkriegsjahre in Deutschland und die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse (in der Zeit, als Hausmanns Text publiziert wird) mit keinem einzigen Wort eingehen. Das wäre im Übrigen ein wirklich passender Zusammenhang für die Themenklammer >Verantwortung und Umgang mit Leben<, also den Bezug von Texten zu ihrem politischen Kontext.

*Ausblenden des sozialhistorischen Kontextes: Beim Termin 7. 5. 2019 bzw. der Interpretation zum Text Der Eisschrank von Alfred Döblin (geschrieben um 1930) enthält die Info-Box keine Informationen über die Wirtschaftskrise in diesen Jahren und die Lebensmittelknappheit und damit keinen wichtigen Interpretationshinweis (siehe Musterlösung Deutschmatura jetzt S. 91ff).

*Ausblenden des biografischen Bezugs  des Textes (Geburtstag des Autors): Bei der Interpretation des Textes von Werner Kofler Im Verbrauchermarkt (20. 5. 2021) fanden es die Aufgabensteller nicht wichtig (oder sie haben das übersehen), das Geburtsdatum des Autors in die Infobox aufzunehmen. Hätten sie das getan, hätten die Maturanten und Maturantinnen entdecken können, dass sich Kofler mit diesem Datum einen Gag erlaubt hat, indem er seine Geschichte an einem bestimmten Tag in einem bestimmten Monat, nämlich  seinem Geburtstag, beginnen lässt (vgl. dazu Deutschmatura jetzt S. 116/40 und 116/48).

*Wenn in die Infobox dann doch einmal Erläuterungen zu Zeitbezügen aufgenommen werden (Mascha Kaléko Zeitgemäße Morgenandacht; Maturatermin 3. 5. 2017; Musterlösung Deutschmatura jetzt S. 98/1), sollten diese nicht teilweise falsch und den Maturanten und Maturantinnen eine bestimmte Sicht der Dinge nahelegen (Kurier 8. 5. 2017 unter Berufung auf Gerhard Ruiss, IG Autoren).

In diesem Zusammenhang wäre auch die Frage zu klären, ob der Fachbeirat, das sind Vertreter und Vertreterinnen  der Germanistik, Linguistik und Fachdidaktik, bei der Auswahl der Texte bzw. der Festlegung auf sie überhaupt eine Funktion hat. Dieser ist erst eingesetzt worden nach der Entgleisung mit dem Text von Manfred Hausmann Die Schnecke (Termin 5. 5. 2014) mit seiner Anhäufung von den Nationalsozialismus rechtfertigenden Ideologemen, der unbegreiflicherweise alle Kontrollschranken passieren hat können. Ob dieser Beirat zum Beispiel hinsichtlich der Frage der Qualität der ausgewählten Texte und ihrer Geeignetheit für die Maturanten und Maturantinnen mehr als eine Alibi-Funktion hat, sollte rasch geklärt werden. Darf man erfahren, wie dieser zu den inhaltslosen Info-Boxen steht? Warum erfährt man nichts über das Gremium im Ministerium, das  letztlich entscheidet, welcher literarische Text zur Matura kommt? Warum nichts über die vielfach gerühmten Filter-Kriterien (und deren Anwender), die dafür sorgen sollen,  dass zur Reifeprüfung handwerklich gut gemachte Aufgabenstellungen vorgelegt werden?

Was fehlt, ist eine österreichweit geführte Diskussion (Lehrerschaft der AHS und BHS; Germanistik-Lehrkanzeln, Fachdidaktiker an den Hochschulen und im Ministerium) darüber, was Maturanten und Maturantinnen an literaturgeschichtlichem Kontextwissen und Fachsprachekompetenz für die Textinterpretation mitbringen müssen. Das von oben paternalistisch verfügte Dogma >Ein poetischer Text ist auch ohne Kontextbezüge „deutbar“, ist eine Beschneidung seiner Bedeutungsdimensionen. Das allerdings ist eine Einstellung, die den Lehrplanbestimmungen über den (auch schriftlichen) Umgang mit Literatur widerspricht und die sich die Fachschaft der Germanisten nicht gefallen lassen sollte. Wie soll der auf seriösen Umgang mit literarischen Texten, das heißt auf mehrere Grade der Poetizität ausgerichtete Literatur(geschichts)unterricht aufrechterhalten werden können, wenn die nicht geringe Gefahr besteht, dass ein solcher eindimensionaler Umgang mit poetischen Texten eine Signalwirkung für die Didaktik des Literaturunterrichts an der Oberstufe entfaltet?

6.2. Definition der Textsorte

6.2.1. Für das Ministerium ist eine Textinterpretation – pointiert formuliert –  eine Textanalyse mit anschließender Deutung. Das legt  die von ihm selbst vorgenommene Abgrenzung nahe, wonach die Textinterpretation „gewissermaßen dort (interpretativ) fort[setzt], wo die Textanalyse endet. Die Interpretation basiert also auf einer Analyse [und] orientiert sich an [ihren] Ergebnissen […].“ (Textsortenkatalog Stand Sept. 2020).

Eine solche Festlegung ist problematisch, weil sie suggeriert, dass  die „Deutung“ eines poetischen Textes so vor sich geht, dass sie auf den Analyseergebnissen  aufbaut statt auf einer prozesshaft entwickelten Interpretationshypothese und deren Überprüfung. Solche Analysen können, wie die Schürfarbeiten der Aufgabensteller in ihren Kommentaren zeigen, ungeheuer viel Material zu Tage fördern. Sinnvoll ist die Zusammenstellung formaler Qualitäten  allerdings nur dann, wenn sich die Analysearbeit an der so genannten Interpretationshypothese orientiert. Diese muss erst einmal aufgestellt werden, also vorliegen,  bevor im Hinblick auf sie ans Analysieren geschritten wird. Verlangt wird mit anderen Worten keine vollumfängliche Textanalyse von allem und jedem, sondern eine von der Interpretationshypothese geleitete, also eingeschränkte,  Zusammenstellung von   Analyseelementen, welche die „Deutung“  mehr oder weniger gut unterstützen.

Wenn auf diese Weise der Umfang der zu bestimmenden formalen Qualitäten eingeschränkt wird, führt eine solche Analyse auch zu keiner Materialschlacht, der Maturanten und Maturantinnen nicht gewachsen sein können.  Wenn eine Analyse zu keiner zusammenhanglosen und die Lesbarkeit schwer beeinträchtigende Stoffhuberei ausarten soll,  muss sie also im Hinblick auf eine bereits vorhandene  Interpretationshypothese vorgenommen werden, die selbstverständlich in einem Prozess entwickelt  und gegebenenfalls nachgeschärft werden muss.

Wenn eine Textinterpretation nicht in einer „Deutung“ besteht, die auf einer Textanalyse aufbaut, bleibt die Frage immer noch offen, worin das Charakteristische  beim Interpretieren eines poetischen Textes besteht.  Näheres kann aus der im selben Dokument auf der Homepage vorgelegten Definition des Begriffs Textinterpretation gewonnen werden.  Das Ministerium sieht das Hauptgeschäft des Interpretierens mit Recht im Erschließen des Textes in seiner ganz eigenen poetischen Gestalt (Inhalt und Form), so dass das Thema eines Gedichtes, einer Erzählung usw., weil diese nicht schon explizit formuliert vorliegt, eben erst ermittelt und dargelegt werden muss. Für diese Ermittlungsarbeit benötigt man spezielle Werkzeuge, die jeder Interpret/jede Interpretin mitbringen muss: zum Beispiel die Fähigkeit zu beurteilen, inwiefern die Inhaltssegmente von der so genannten Normallage abweichen.

Am Beispiel der Interpretation zu Alfred Döblins Text Der Eisschrank bestünde das für die Interpretation wichtige Beurteilen und Entwickeln einer Interpretationshypothese darin zu erkennen, dass man als Mann seiner Frau zum Geburtstag „normalerweise“ etwas schenkt, was ihr Freude bereitet, was der Mann im Text von Döblin  aber nicht tut, weil der geschenkte Eisschrank für die Frau in Zeiten der Lebensmittelknappheit kein Geschenk ist, wohl aber  für ihn selbst, der großes Interesse an diesem „Präcisionsfabrikat“ hat (siehe Deutschmatura jetzt S. 97f).

Das  Erschließen (im Übrigen ein Operator im Operatorenkatalog)  akzentuiert die Notwendigkeit dieser Arbeit, lässt aber die Form, in der ihr Ergebnis formuliert werden muss,  offen. Man darf davon ausgehen, dass dazu eine Art Übersetzung der mit poetischen Gestaltungsmitteln eingekleideten Inhalte in pragmatische Begriffs- und Fachsprache erforderlich ist. Die Interpretation eines poetischen Textes ist demnach eine besonders qualifizierte Form des Umgangs mit literarischen Texten, eine nachvollziehbare (auch schriftliche) Kommunikation  über das, was darin thematisiert worden ist. Der Interpretationsauftrag verlangt zusammengefasst das Erschließen des in einem poetischen Text gestalteten Themas in pragmatischer Begriffssprache unter Berücksichtigung der dabei eingesetzten Gestaltungsmittel.

6.2.2. Das Ministerium führt bei der Darstellung seiner Ideal-Textinterpretation unter der Rubrik >Gliederung und Struktur< eine Interpretationshypothese an, die im Hauptteil von den Maturanten und Maturantinnen entwickelt (a) oder, wenn vorgegeben (b), überprüft werden soll.

ad a) Bei vielen Textinterpretationen wird das Entwickeln einer Interpretationshypothese durch als Hilfestellung gedachte Hinweise, wo beim „Deuten“ auszugehen ist oder worauf der Akzent dabei zu legen ist, nicht eben erleichtert (Zusammenstellung >Deutschmatura jetzt< Link zum Operator deuten S 149). Besonders schräg sind solche Hinweise, die zeigen, dass die Aufgabensteller den fiktionalen Text nicht verstanden haben (Beispiele >Deutschmatura jetzt< Link S. 149f)

ad b) Bei den bisher 24 Maturaterminen ist bisher (Stand 13. 1. 2022) keine Interpretationshypothese vorgegeben worden, die zu überprüfen gewesen wäre.  Eine solche Aufgabenstellung wäre für höhersemestrige Germanistikstudenten gewiss reizvoll, bei einer Deutschmatura aber didaktisch fragwürdig (siehe dazu auch  die Anmerkungen zum Deutungsauftrag Matura vom 17. 9. 2020, unten S. 17, Z. 10).

6.3. Beurteilung, Diskussion und Begründung der Aktualität eines Textes

Diskutiert werden sollte weiter, ob es am Ende einer Textinterpretation angebracht ist, die Maturanten und Maturantinnen über einen 4. Schreibauftrag auch noch die Aktualität des Textes  beurteilen, diskutieren oder begründen zu lassen. Befürchtet man, dass sie ohne diese Zusatzaufgabe die verlangte Wörterzahl nicht erreichen? Jedenfalls zeugen solche Aufträge von der Unbedarftheit der Aufgabensteller im Umgang mit dem Konzept der Aktualität, das heißt: mit den vielfachen Aspekten, die berücksichtigt werden müssen, damit Sinnvolles über  die Bedeutung eines Textes für die Gegenwart (= Aktualität) ausgesagt werden kann. Was da alles ins Spiel kommen muss, kann im Kapitel >Schwierige Wörter< auf Seite 115 (Deutschmatura jetzt) nachgelesen werden. Besonders schlimm sind solche Aufträge bezüglich der Bestimmung der Aktualität eines Textes, wenn sie sich  auf etwas beziehen, was im Text nicht thematisiert wird (17. 9. 2015 Heinrich Böll: Der Lacher; siehe Musterlösung >DeutschMatura jetzt>; S. 98/1), den Fokus auf eine inhaltliche Nebensächlichkeit lenken (3. 5. 2017 Mascha Kaléko: Zeitgemäße Morgenbetrachtung; siehe Musterlösung >DeutschMatura jetzt> S. 116 Link zur Musterlösung zu  Kaléko S. 2) oder gar begründet bekommen wollen, warum ein Text heute noch aktuell ist (20. 5. 2021 Werner Kofler: Im Verbrauchermarkt;siehe >Deutschmatura jetzt< Seite 116/48), also die Aktualität sogar als gegeben hinstellen.Im Einleitungsteil sind knapp gehaltene Aussagen über die Aktualität eines poetischen Textes durchaus angebracht, genauso wie am Ende der Textinterpretation; in beiden Fällen auch ohne dass die Maturanten:innen durch einen eigenen Operator dazu verpflichtet werden. Auf diese sinnvolle Möglichkeit Bezüge zur Gegenwart des Rezipienten herzustellen wird die Schülerschaft von den Lehrkräften im Literaturunterricht immer schon hingewiesen.

6.4. Anmerkungen zu den Operatoren erschließen und bestimmen, die bei der Textinterpretation bisher nicht eingesetzt worden sind, aber eingesetzt werden sollten

6.4.1 Es ist überlegenswert, ob im Hinblick auf den Kern des Interpretationsgeschäftes, nämlich das Erschließen des gestalteten Themas der altväterlich anmutende Operator deuten mit dem bereits vorhandenen Operator erschließen ausgetauscht werden sollte (siehe 6.2.1).

6.4.2. Bemerkenswerterweise sind die Analyse- und Untersuchungsaufträge entgegen der Zielsetzung der Standardisierung alles andere als präzise. Es genügt jedenfalls nicht, einfach nur die Analyse der formalen oder sprachlichen Gestaltung zu beauftragen. Reihenweise geht es da ganz lapidar um die Untersuchung der Sprache der Figuren, die Analyse der sprachlichen Besonderheiten, die sprachliche Gestaltung des Textes, die Analyse der Wortwahl, die rhetorischen Mittel usw. Damit kann meiner Meinung nach der Anspruch der Zentralmatura hinsichtlich der Klarheit der Aufgabenstellung und der Objektivität der Beurteilung nicht eingelöst werden.

Mit dem bisher ungenützten Operator bestimmen und der Angabe einer Zahl ließe sich der Umfang der Analyseelemente einschränken, womit für mehr  Beurteilungsgerechtigkeit gesorgt wäre, die derzeit nicht gegeben ist, weil angesichts der oben angeführten allgemein gehaltenen Aufträge die Lehrkräfte an jeder Schule ihrem Gutachten andere Standards zu Grunde legen. Ein Analyseauftrag könnte beispielsweise so lauten: >Bestimmen Sie im Hinblick auf Ihre Interpretationshypothese zwei der eingesetzten rhetorischen Figuren auf der Wortebene, zwei  auf der  Satzebene und eine auf der Gedankenebene.< Was gehört   beispielsweise bei der Klärung der Besonderheiten auf der Satzebene zu einer  Analyse dazu, die auf dem Niveau der AHS und BHS Standard sein darf? Was muss alles und in welcher Reihenfolge bestimmt werden? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Detailfragen sind es mindestens die Begriffe Hauptsatz, Nebensatz, Hauptsatzreihe, Satzgefüge, Verbalstil, Nominalstil, Ellipsen, Wortstellung, deren Besonderheiten darzustellen wären. Es versteht sich von selbst, dass über den Umfang und die Tiefe der Analysearbeit diskutiert werden muss. Voraussetzung für die Praktikabilität einer solchen Formel ist die  Herstellung  eines Einverständnisses der Fachschaften über das Klassifikationssystem, die Über- und Unterordnung der Analysebegriffe.

7. Textsorte Textanalyse

Laut Ministerium wird keine Statistik darüber geführt, welche Textsorten (bzw. Aufgabenstellungen) von den Maturanten und Maturantinnen in welcher Intensität gewählt werden; auch keine, anhand derer man erkennen könnte, ob und welche Auswahlunterschiede und Auswahlschwerpunkte es bei AHS, BHS und den Erwachsenenbildungsanstalten  (Berufsreifeprüfung; Lehre mit Matura) gibt. Da die Deutsch-Lehrkräfte (der AHS und BHS) nach Abgabe der schriftlichen Arbeiten dem Ministerium über eine Excel-Datei neben der Schulkennzahl unter anderem melden müssen, welche Aufgabenpakete von ihren Schülern und Schülerinnen gewählt worden sind, wäre die Erstellung einer solchen Statistik möglich. Interessant wäre eine solche insbesondere im Hinblick auf die Verteilung der Textsorten Textinterpretation und Textanalyse bei AHS und BHS. Zurzeit dienen die dort eingetragenen Daten nur dazu, die Medien mit Informationen über die Ergebnisse der schriftlichen Arbeiten zu versorgen.

Da die Daten  grundsätzlich zur Verfügung stehen und abrufbar sind, wäre im Hinblick auf die Textanalyse für den Fall, dass Maturanten und Maturantinnen bei den bisher 8 von 24 Terminen (Stand 13. 1. 2022) mit dieser Textsorte im Paket nur minimal Gebrauch gemacht haben, zu diskutieren, ob diese Textsorte nicht wie die Textsorten Empfehlung und Offener Brief aus dem Kanon genommen werden sollte. Die Kompetenz formale Qualitäten eines Textes zu analysieren, ist eine Voraussetzung  für das Schreiben einer Textinterpretation, bei   allen anderen Textsorten wird sie nicht benötigt. Warum also diese Kompetenzen bei einer auf die Analyse von pragmatischen Texten gerichteten Textuntersuchung noch einmal bemühen? Im Übrigen gilt für diese dieselbe Kritik wie schon bei der Analysearbeit  der Textinterpretation. Die Arbeitsaufträge sind viel zu allgemein formuliert, als dass ihnen die Objektivität der Beurteilung garantierende Gütekriterien entnommen werden könnten (siehe oben  6.4.2.).

Auf jeden Fall muss die Textanalyse (und auch  die Textinterpretation) aus dem Kanon der auch  den Absolventen der Kurse an den Erwachsenenbildungsanstalten (und der Lehre mit Matura) vorgelegten Textsorten gestrichen werden.  Der Lehrplan für diese Einrichtungen sieht das Schreiben beider Textsorten nämlich nicht vor (Zitat der einschlägigen Bestimmungen siehe Link auf S. 170 >Deutschmatura jetzt<). Zurzeit ist es so, dass den Absolventen dieser Bildungseinrichtungen statt der Wahl aus drei Aufgabenpaketen, wie das für die Kandidaten und Kandidatinnen der AHS- und BHS vorgesehen ist, nur mehr ein Paket zur Verfügung steht, wenn in einem Paket eine Textinterpretation und in einem zweiten Paket  eine Textanalyse aufgegeben wird. Mit einer solchen Festlegung auf ein Paket waren die Kandidaten  und Kandidatinnen der Erwachsenenbildungsanstalten (und der Lehre Matura) immerhin schon bei acht Maturaterminen    konfrontiert (20.5.2021; 6.5.2020; 18.9.2019; 3. 5. 2018; 20.9.2017; 11.1.2017; 9.5.2016; 12.1.2015). Wenn sich das Ministerium nicht ein Verfahren wegen einer den Gleichheitsgrundsatz verletzenden Vorgangsweise bei der schriftlichen Reifeprüfung an den Erwachsenenbildungsanstalten und der Kurse Lehre mit Matura einhandeln will, sollte hier rasch gehandelt werden.

B Anmerkungen zur Handhabung der Operatoren im Kontext der Schreibaufträge

Es ist immer wieder verblüffend festzustellen muss, wie sorglos und sprachlich schief die Aufgabensteller mit den Operatoren umgehen. Hier einige Beispiele:

1. Da sollen Sachverhalte und Aussagen benannt statt  beschrieben bzw. wiedergegeben werden (Leserbrief 5. 5. 2014 bzw. Erörterung 11. 1. 2016).

Die Formen des Mobbings (12. 1. 2015), die durch Facebook bewirkten Veränderungen auf dem Nachrichtenmarkt (3. 5. 2017) oder die Besonderheiten der Fotografien von Simon Norfolk (7. 5. 2019) sollen wiedergegeben werden. Das Problem besteht darin, dass nur Aussagen über diese Bezugsobjekte wiedergegeben werden können (und die Maturanten/innen haben es immer mit solchen zu tun!) und nicht die Bezugsobjekte selbst.

Richtig und verständlich müsste so formuliert werden. Beschreiben Sie die Formen des Mobbings / die durch Facebook bewirkten Veränderungen auf dem Nachrichtenmarkt / die Besonderheiten der Fotografien von Simon Norfolk, wie sie in der Textbeilage dargestellt werden.

2. Anmerkungen  zum Einsatz der Operatoren beschreiben, wiedergeben und zusammenfassen im Zusammenhang mit der Textinterpretation und den Bezugsobjekten Handlung und Inhalt

Angesichts der folgenden Zusammenstellung sollte an der dafür verantwortlichen Stelle im Ministerium nachgedacht werden, ob der Einsatz dieser drei Operatoren in diesen Koppelungen zur gewünschten Klarheit der Aufgabenstellung führt und nicht eher zur Verwirrung der Kollegenschaft beiträgt, die solche Unterscheidungen zu didaktisieren hat

Synopse der Operatoren zu Handlung und Inhalt
bei Schreibaufgaben der Textsorte Textinterpretation

Eine besondere Herausforderung für den Didaktiker/die Didakterin stellt sich, wenn die Handlung (oder auch der  Inhalt) eines poetischen Textes wiedergegeben werden soll. Das Problem besteht darin, dass diese Formulierung durch den Sprachgebrauch zwar eingebürgert ist und auch beibehalten werden soll, aber nicht das ausdrückt, was bei der Erfüllung des Auftrags geleistet werden muss.

Handlung in einem poetischen Text ist nicht etwas, was vom Autor / der Autorin in einen Text – wie ein Kabel in einen Baukörper –  hineingelegt worden ist, so dass man es einfach nur freilegen braucht und herausziehen kann. Handlung ist vielmehr eine dem Überblick  dienende Linie, die von demjenigen gezogen wird, der die „Handlung“ wiedergeben soll. Dabei orientiert er sich an den Vorgaben des poetischen Textes und überträgt das poetische Geschehen in die pragmatische Kategorie Handlung. Das dabei erzeugte Ergebnis ist die Handlung. Sie ist  trotz der inhaltlichen Deckung mit dem Original etwas Neues und etwas anderes, als dass man dazu sagen könnte >Es wird einfach wiedergegeben< im Sinne von:   So steht es auch schon im poetischen Text. Das, was da „wiedergegeben“ wird, die Handlung, ist etwas, was zwecks Überblick für andere und/oder  zwecks eigener Weiterverarbeitung wie eine Leitung außen an den poetischen Text angelegt und generiert (erzeugt) wird. Gleiches gilt für die Wiedergabe des Inhalts.

Die Definition der Operatoren wiedergeben, beschreiben und zusammenfassen legen eine unterschiedliche Herangehensweise nahe, so dass es leicht zu Verwirrungen bei Schülern und Schülerinnen, aber auch in der Lehrerschaft kommen kann. Angesichts der Synopsis der eingesetzten Operatoren  sollte  das Ministerium bei Aufgabenstellungen im Zusammenhang mit der Textinterpretation einen einheitlichen Umgang der Operatoren festlegen. Die Erarbeitung der Handlung oder des Inhalts ist  schon schwierig genug.

3. Die Schreibaufträge mit den Operatoren analysieren und untersuchen leiden, wie oben schon dargestellt (6.4.2.), daran, dass sie allesamt nicht klarmachen, was konkret/im Detail zu erarbeiten ist, mit der Folge, dass mit solchen Aufgabenstellungen die Objektivität und Vergleichbarkeit der Beurteilung nicht garantiert werden kann. Über den Operator bestimmen ließe sich die Analysearbeit genauer fassen (siehe oben 6.4.2.). In der Beurteilungsrealität sind es die Lehrkräfte, die sich mit den Maturanten/innen sinnvollerweise rechtzeitig darüber absprechen sollten, was verlangt wird und was nicht.

4. Der Operator erschließen sollte, wie oben  (1.5.) dargestellt, bei einer „Zusammenfassung“ nicht mehr eingesetzt werden. Bei einer Textinterpretation könnte er den altväterlich und geheimnisvoll klingenden Operator deuten ersetzen.

5. Bei den Operatoren beurteilen und bewerten müssen die item writer bei ihren Kommentaren in Zukunft der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung dieser beiden Operatoren gerecht werden und beim Operator beurteilen als Kriterien für die Begründung die Sachlogik ins Spiel bringen  und beim Operator bewerten die Bezugnahme auf einen selbst gewählten oder gesellschaftlich akzeptierten Wert (siehe dazu Deutschmatura jetzt S 130f). Zurzeit sehen die mit den beiden Operatoren verbundenen Schreibhandlungen bzw. Begründungen in den Kommentaren gleich aus; mit Auswirkungen auch auf den Schreibunterricht an den Schulen?

6. Ministerium und Aufgabensteller sollten sich darüber rasch darauf einigen, wie sie den Operator sich auseinandersetzen mit handhaben wollen: seine ihm innewohnende Dialektik beibehalten oder fallen lassen.

7. Ministerium und Aufgabensteller sollten sich weiter darüber rasch darauf einigen, wie sie den Operator Stellung nehmen handhaben wollen und sich fragen, ob die damit verbundene Schreibhandlung entgegen der Definition des Operators wirklich auch noch dialektisch abgehandelt werden soll (wie zum Termin 18. 9. 2019; Operator 3: Nehmen Sie dazu Stellung, ob die Erforschung Künstlicher Intelligenz durch Gesetze oder andere Maßnahmen begrenzt werden sollte).

8. Der Operator diskutieren sollte gestrichen werden, weil er gegen die Regeln seiner Verwendung verstößt. Ein mit dem Schreiben einer Erörterung beschäftigter Maturant kann sich mit  einer bestimmten Position in einer Textbeilage auseinandersetzen, Pro- und Kontraargumente zusammenstellen, abwägen und eine Synthese  formulieren. „Diskutieren“ kann er das alles (mit sich selbst?) jedenfalls nicht. Allenfalls kann er den Verlauf einer Diskussion wiedergeben oder das Ergebnis zusammenfassen.

9. Mehr Achtsamkeit sollte auf die  verwirrende Koppelung der Operatoren Forderungen / Vorschläge entwerfen gelegt werden. Die Maturabeispiele über den Link auf S. 137 (Deutschmatura jetzt) führen jedenfalls zu  amüsanten Fragen.

10. Schiefer Einsatz des Operators deuten; besser und richtig stattdessen: charakterisieren

Beim Termin 17. 9. 2020 waren zwei Gedichte zu vergleichen, eines von Eichendorff Einem Paten[kind] zu seinem ersten Geburtstage (1854) und eines von Wolf Biermann Willkommenslied für Marie (1982). Beim 3. Schreibauftrag mussten die Maturanten und Maturantinnen vergleichend die Sicht auf die Welt, die in den beiden Texten zum Ausdruck kommt, deuten. Anmerkungen zu diesem  Auftrag:

Die Aufgabensteller lassen bei diesem Auftrag Maturanten/innen nicht selbst entdecken, dass sich in beiden Gedichten (neben anderem) auch eine je verschiedene Weltsicht ausdrückt, sondern geben diese (richtige) Erkenntnis vor. Dass sich in den beiden Gedichten eine Weltsicht ausdrückt, ist aber bereits eine Interpretation. Das hat zur Folge, dass diese zwei Weltsichten nicht mehr gedeutet werden, sondern aus dem poetischen Kontext erschlossen, das heißt: das je Besondere an ihnen charakterisiert und dann miteinander verglichen werden können. Die item writer glauben, weil sie Gefangene des Operatorensystems sind, unbedingt den Operator deuten aus dem dritten Anforderungsbereich einsetzen zu müssen, so dass sich eben ein Schreibauftrag ergibt, der  sprachlich befremdet. Es wäre so einfach gewesen, einfach so zu formulieren:

Charakterisieren* Sie beide Weltsichten und
vergleichen sie diese miteinander.

Den Operator charakterisieren (zum ersten Mal ausdrücklich eingesetzt beim Maturatermin 23. 9. 2021) haben die Konzeptoren der SRDP dem 2. Anforderungsbereich  >Reorganisation und Transfer< zugeordnet. Im Hinblick auf die oben angeführte Aufgabenstellung ist das Charakterisieren der Weltsicht  als eine auf die Literatur bezogene Aufgabenstellung allerdings mehr als eine Reorganisation bereits vorhandener Informationen aus einem poetischen Text, sondern verlangt eine kreative Leistung, die über den Transfer von  Passagen aus dem Original hinausgeht. Das je Spezifische der beiden Weltsichten muss auf den besonderen Begriff gebracht und mit Textbelegen begründet werden.

*Der Begriff charakterisieren hat gegenüber dem Verb untersuchen den Vorteil, dass in ihm das Ziel  und das Ergebnis der Untersuchung mitgemeint ist.

Zusammengefasst lassen diese Beispiele den Schluss zu, dass die Aufgabenstellungen nicht immer die Klarheit haben, die man im Vertrauen auf die  vielfach gerühmten Präzision  der Operatoren und deren Bezugsobjekte erwarten könnte.

C Anmerkungen zur Themenauswahl; Folgen der Formatierungen

Die Themen (zu denen dann Leserbriefe, Kommentare, Erörterungen und  Meinungsreden geschrieben werden) orientieren sich schwerpunktmäßig an den Trends und Phänomenen des modernen Lebens: Berufsbilder, Familiensituation, Fragen der Gesundheit und Ernährung, des Konsums und seiner Auswüchse, Umgang mit den Medien, Freizeitverhalten, Tourismus usw. Schüler und Schülerinnen, die diese Entwicklungen in der Oberstufe aus Eigeninitiative verfolgen, haben sicher einen Vorteil genauso wie die, welche in den verschiedenen Unterrichtsgegenständen damit zu tun bekommen. Trotzdem werden viele von ihnen bei der Matura auf Aufgabenstellungen mit Themen stoßen, von denen sie in keinem Unterrichtsgegenstand – und auch nicht im Deutsch-Unterricht – je etwas gehört haben; zum Beispiel von Dark Tourismus oder der Problematik, auf die  einzugehen ist, wenn in Medien die Privatsphäre verletzende Bilder von Unfalltoten gezeigt werden, von Nudging, Urban Gardening, Roboter Journalismus usw. Wenn sie davon bei der Matura zum ersten Mal lesen, sollen sie zu etwas Stellung nehmen, wovon sie keine Erfahrung haben. Beim Termin 6. 5. 2013 glaubten die item writer allen Ernstes, dass Maturanten/innen  in der Lage sind, nachdem sie zwei Grafiken studiert und sich damit das erforderliche „Fachwissens“ angeeignet haben, einer Gemeinde, die sich für eine bestimmte Energieversorgungstechnologie entscheiden muss (Erdgaskraftwerk, Wasserkraftwerk, Förderung flächendeckender Versorgung durch Solaranlagen oder Förderung mehrerer Biogas-Blockkraftwerke)  empfehlen zu können, welche es sein soll. Auch wenn  die  Textsorte Empfehlung inzwischen (ohne Angabe von Gründen) aus dem Textsortenkanon gestrichen worden ist, vertreten die Konzeptoren der SRDP speziell bei Erörterungen und Kommentaren die Auffassung, dass Maturanten und Maturantinnen in der Lage sein müssen, auch unter diesen Umständen etwas Maturareifes zu produzieren, eine Textbeilage, an die man sich kräftig anlehnen kann,  steht ihnen ja zur Verfügung. Von der Notwendigkeit dazu ein eigenes Gliederungs- und Ordnungssystem zu entwickeln hat man sie durch die Vorgabe der Operatorenabfolge ohnehin befreit. Muss man da nicht befürchten, dass diese in der Oberstufe nicht mehr erlernte, aber im Studium und Arbeitsleben sehr wohl benötigte Fertigkeit verkümmern wird?

Dass die schriftlichen Arbeiten nach dem System der SRDP mit seinen vielfachen Formatierungen oft in nichts anderem bestehen können als in der Paraphrasierung und geschickten Verarbeitung vorgegebenen Gedankengutes (mit verschwimmenden Grenzen zum copy and paste), scheint im Ministerium niemand zu stören. Kann so die “dauerhafte“ Qualitätssteigerung und -sicherung an Österreichs allgemein- und berufsbildenden höheren Schulen bewirkt werden? Die Fähigkeit zu allem und jedem Stellung nehmen zu können, wird laut den Bekundungen des BIFIE auf seiner Homepage sogar mit einer besseren Vorbereitung auf das Berufsleben in Verbindung gebracht.  Läuft diese Form der Zentralmatura mit ihren Rückkoppelungseffekten auf eine lange Schullaufbahn  wirklich auf die beschworene “erhöhte Studierfähigkeit“ hinaus und nicht auf Schreib- und Denkformatierung, Abrichtung und Entmündigung? Können die Prinzipien des Taylorismus,  zwecks Optimierung der Effektivität, Qualitätsverbesserung und -Kontrolle  bei der Warenproduktion erfolgreich eingesetzt,  wirklich auch auf die Steuerung so komplexer mentaler Prozesse wie das Schreiben von Texten übertragen werden? Können durch die vielfachen Formatierungen wirklich die Güte des Schreibprodukts und die Objektivität der Beurteilung  garantiert werden? Diese Fragen sind endlich breit zu diskutieren.

D Vorschläge, wie eine reformierte SRDP zu mehr Selbsttätigkeit führen könnte

1 Bei der Textinterpretation sollten die Maturanten und  Maturantinnen die Interpretationshypothese ohne die als Hilfestellung gedachten Hinweise formulieren (dürfen).

2 Durch Operatoren Bezüge zur eigenen Lebenswirklichkeit herstellen lassen.

Im Übrigen sollte der Literaturunterricht sich nicht darin  erschöpfen, die Schüler und Schülerinnen zu befähigen, das Thema eines poetischen Textes  erfassen und seine formalen Qualitäten darstellen zu können. Seit Jahren schon wird die Literatur (und die Kunst ganz allgemein) als ein gleich bedeutsamer Zugang zur Wirklichkeit wie die Wissenschaft begriffen. Seit Jahrzehnten schon wird der Literaturunterricht auch geleitet von der Erkenntnis, dass in poetischen Texten vorgeführtes  Verhalten als Probehandeln literarischer Figuren  verstanden werden darf, an dem sich die Rezipienten reiben und Maß nehmen können für ihr eigenes Leben. Erst dann, wenn Bezüge hergestellt werden zwischen dem poetischen Text und der Lebenswirklichkeit seiner Rezipient:innen, kann Literatur ihre Bedeutung entfalten. Ich gehe davon aus, dass der Literaturunterricht in der Schule  den Schülern und Schülerinnen Mut gemacht hat, sich bei der Auseinandersetzung mit Texten selbst ins Spiel zu bringen und sich nicht mit bloßen Inhaltsangaben  und der Zusammenstellung rhetorischer Figuren und sonstiger formaler Kunststücke zufrieden zu geben. Daher stimmt es mich traurig erkennen zu müssen, dass die Aufgabenstellungen bei der SRDP genau darauf hinauslaufen. Dabei läge die Bezugnahme zur Lebenswirklichkeit der jungen Rezipienten und Rezipientinnen bei vielen Texten, die vorgelegt worden sind, mehr als nahe; beispielsweise:

*Bei der düsteren Vater-Sohn-Geschichte von Carolina Schutti Eulen fliegen lautlos (Matura vom 13. 1. 2021) interessiert die Beziehung der beiden ausschließlich unter der Perspektive von Aufträgen, die Formales analysieren und untersuchen zu lassen. Einen Platz, der dem Maturanten/der Maturantin eingeräumt wird, Vergleiche anzustellen mit eigenen Erfahrungen, das Verhalten der Eltern zu beurteilen, den kleinen Jakob zu bedauern usw. gibt es nicht. Wie leicht ließe sich dazu der folgende Arbeitsauftrag formulieren:

Beurteilen Sie das Verhalten der Eltern gegenüber ihrem Sohn.

*Auch bei den Schreibaufträgen zur Interpretation des Textes von Robert Musil Der Riese Aogag (Termin vom 18. 9. 2019; Musterlösung Deutschmatura jetzt Link auf S. 98/1) ließe sich ein Auftrag formulieren, der die Bedeutung des Textes für die Lebenswirklichkeit von heute aufwachsenden Jugendlichen ins Spiel bringen könnte, z. B. so: Beurteilen Sie die Art und Weise, wie der junge Mann eine Beziehung zu  Frauen herstellen möchte.

*Beim Termin 17. 9. 2020 waren zwei Gedichte zu vergleichen, eines von Eichendorff Einem Paten zu seinem ersten Geburtstage (1854) und eines von Wolf Biermann: Willkommenslied für Marie (1982). Beim 3. Schreibauftrag sollen die Maturanten vergleichend die Sicht auf die Welt, die in den beiden Texten zum Ausdruck kommt, deuten.

Es wäre ein Einfaches, auch hier die Lebenswirklichkeit der Generation der Schüler und Schülerinnen der Geburtsjahrgänge 2002 ins Spiel zu bringen, beispielsweise durch folgenden Schreibauftrag:

Nehmen Sie zu der Weltsicht in  beiden Gedichten aus heutiger Sicht Stellung.

3. Platz für mehr Selbsttätigkeit durch reduzierte Analyse

Platz für solche Schreibhandlungen, die den Rezipienten die Bedeutung der Literatur für das eigene Leben erkennen lassen können, gibt es im System des Korridors dann, wenn die Analyse und Untersuchungsaufträge auf ein vernünftiges Maß reduziert werden. Über drei (!) Seiten formaler Qualitäten fördern die Aufgabensteller beispielsweise bei dem oben angeführten Gedichtvergleich  (Eichendorff – Biermann) in ihrem Kommentar zu Tage.

4. Mehr Selbsttätigkeit durch den Operator gegenüberstellen

Bei den argumentativen Textsorten Leserbrief (sofern er überhaupt beibehalten werden kann), der Erörterung, dem Kommentar und der Meinungsrede sollten solche Textbeilagen vorgelegt werden, die nicht schon das komplette Rüstzeug für eine Auseinandersetzung mitliefern.

Die Textbeilage zur Meinungsrede am 13. 1. 2021 Was die Natur besser kann als das Fitnesscenter, in der die Argumente für eine Bewegung in der Natur dargestellt werdenund wo im 2. Operator aufgetragen wird, diesen die Vorteile von körperlicher Betätigung im Fitnesscenter gegenüberzustellen (Operator hier zum ersten Mal seit 2013 eingesetzt) könnte dafür ein Vorbild sein. Denn hier müssen die Argumente selbsttätig, ohne Rückgriff auf bereits vorhandenes Gedankengut entwickelt werden.

Ein vergleichbarer Schuss Selbsttätigkeit wurde bei der Erörterung (Termin 20. 1. 2021) zum Thema Verzicht auf News? verlangt bzw. ermöglicht, weil der Maturant/die Maturantin beim 2. Operator die Argumente des Autors der Textbeilage, der sich auf den Verzicht festgelegt hat, diskutieren, das heißt auch eine Gegenposition dazu generieren musste, die nicht schon vorgegeben ist.

5. Lange Textbeilagen durch andere Kurzinformationen ersetzen

Diskussion, ob nicht (bei einigen Aufgabenstellungen?) die langen Textbeilagen, aus denen oft Lösungen einfach übernommen werden können,  durch Informationen aus Statistiken, Schaubildern und sonstigen zitierfähigen Kurz-Informationen, die in die Maturaarbeit eingearbeitet werden müssen,  ersetzt werden könnten – nach dem Muster: Erarbeiten Sie dazu (Thema/Themenfrage)  eine Stellungnahme und berücksichtigen Sie dabei … Informationen/Daten aus den beigelegten Materialien. Aufgabe der item writer wäre es, den Umfang der einzuarbeitenden Informationen/Daten zu bestimmen.


KRITIK ZENTRALMATURA DEUTSCH 

ANALYSE ZU DEN AUFGABENSTELLUNGEN 2013,2014

(abgedruckt in der Zeitschrift Aautoren Solidarität 2014, Heft 2-3, S. 21ff)

Diese Form der Deutsch-Zentralmatura überträgt die Prinzipien der Prozesssteuerung von Arbeitsabläufen (Taylorismus) auf das Schreiben von Texten. Das läuft auf die Gleichschaltung des Denkens hinaus und führt zur Entmündigung unserer Schüler.[1]
Die Bildungsminsterin hat in ihrer Stellungahme vom 15. Mai dieses Jahres im Zusammenhang mit der Generalprobe für die Zentralmatura, “gravierende Fehler“ eingestanden. „Die gilt es jetzt zu analysieren und im nächsten Jahr zu minimieren oder noch besser gar nicht passieren zu lassen.“ Das BIFIE, das in letzter Zeit aus den Schlagzeilen nicht mehr herausgekommen ist, soll vor weiterem Schaden und Imageverlust bewahrt werden. Dazu löst man den Vertrag mit den beiden BIFIE-Direktoren, ruft eine Expertengruppe ins Leben, die binnen einem Monat eine Stärken- und Schwächen-Analyse erarbeiten soll. Diese bezieht sich vermutlich in erster Linie auf die Struktur des Bildungsinstituts mit seinen 180 Beschäftigten. Von einer Redimensionierung ist die Rede und von Überlegungen, wie die Verteilung der Kompetenzen neu gewichtet werden sollen. Die Zentralmatura selbst wird nicht in Frage gestellt.

Das Fass zum Überlaufen gebracht hat der bei der schriftlichen Deutsch-Reifeprüfung zur Interpretation vorgelegte Prosatetext “Die Schnecke“, der 1947 von Manfred Hausmann publiziert worden ist. Mittlerweile haben die Medien und in ihnen namhafte Germanisten des Landes ihre Bestürzung zum Ausdruck gebracht, wie es möglich sein kann, dass dieser Text mit seiner Entlastungsfunktion für die Täter des NS-Terrors die viel gerühmten Testfilter im BIFIE passieren hat können.[2] In den Blogs der Printmedien kann man nachlesen, dass diese Bestürzung jetzt den Kreis der Fachleute verlassen und der Ärger der an bildungspolitischen Fragen interessierten Öffentlichkeit eine kritische Masse erreicht hat, die es möglich macht, die Aufmerksamkeit einmal auch auf den Wahn- und Unsinn aller anderen Aufgabenstellungen zu lenken.

Im Folgenden werden an etlichen Beispielen der schriftlichen Reifeprüfungen Mai 2013 und 2014 zwar auch die handwerklichen und fachdidaktischen Fehler bei nichtliterarischen Aufgabenstellungen dargestellt, die auf die abenteuerliche Inkompetenz der in der obersten Testungsschleife im BIFIE werkenden Experten zurückzuführen sind, aber in erster Linie werden der Blick auf den Modus der Textproduktion gerichtet sein, dem die Kandidaten beim Schreiben ausgesetzt sind, und in der dahinter stehenden Erziehungsphilosophie der Taylorismus ausgemacht werden, weil nach seinem Vorbild das Prinzip der Prozesssteuerung von Arbeitsabläufen auf das Schreiben von Texten übertragen wird. Diese läuft auf nichts Geringeres hinaus als auf die Gleichschaltung des Denkens und die Entmündigung der Schüler und Schülerinnen.

Zum Aufgabensetting der Zentralmatura

Bisher wurden die schriftliche und die mündliche Matura an den AHS, BHS nach Prüfungsordnungen abgehalten, welche ausdrücklich die unterschiedlichen Anforderungen berücksichtigt haben, die von den Schulgesetzen diesen Schultypen zugeordnet werden. Ablesbar sind diese Anforderungen an den unterschiedlichen Bildungszielbestimmungen, den unterschiedlichen Lehrplänen und Stundentafeln. Die Aufgabenstellungen bei der Matura korrespondierten folglich mit dem unterschiedlichen Bildungs- und Ausbildungsweg der Schüler.

Die Zentralmatura leitet nun einen Paradigmenwechsel ein. Trotz der nach wie vor aufrecht bleibenden unterschiedlichen Bildungszielbestimmungen und unterschiedlichen Lehrpläne erhalten nun alle Schüler, gleich aus welchem Schultyp sie kommen, dieselben drei Aufgabenpakete mit je zwei Schreibaufgaben (eine Neuerung für die AHS[3], wobei sie sich für eines entscheiden müssen. Die bisher von den Lehrkräften der Maturaklassen nach den Gesichtspunkten dieser Bestimmungen formulierten und von der Schulaufsicht abgesegneten inhaltlich breit streuenden Maturathemen werden also zusammengestrichen auf sechs Themen (pro Matura). Neu ist weiter, dass sich das BIFIE auf neun Textsorten festgelegt hat, deren Beherrschung bei der Matura verlangt wird und die es hinsichtlich der nachzuweisenden Gestaltungskriterien präzise definiert hat. Diese Textsorten sind bisher schon an der AHS und BHS unterrichtet worden, ihrer Ausrichtung gemäß allerdings mit unterschiedlicher Akzentuierung. In den Lehrplänen werden diese, sofern sie überhaupt erwähnt werden, nur dem Namen nach angeführt und es blieb bisher dem Geschick, dem Fortbildungswillen der Kollegenschaft und den Schreibvorschlägen in den Schulbüchern überlassen, wie diese umgesetzt werden.

Wenn die Kandidaten die schriftliche Reifeprüfung aus Deutsch nach dem neuen Modus bestehen wollen, müssen sie also das Schreiben von neun verschiedenen Textsorten beherrschen (Interpretation, Textanalyse, Zusammenfassung, offener Brief, Leserbrief, Kommentar, Empfehlung, Erörterung Meinungsrede). Diese Textsorten werden über die drei Themenpakete so verteilt, dass auf jeden Fall in einem Paket immer zwei verschiedene Textsorten zum Schreiben aufgegeben werden. Damit klar ist, wie eine solche Textsorte jeweils aussehen soll, hat das Bildungsinstitut die Strukturelemente und Gestaltungskriterien dafür festgelegt. Festgelegt hat das Bildungsinstitut auch die Bedeutung der so genannten Operatoren. Das sind auf drei Anforderungsbereiche verteilte 21Typen sprachlichen Handelns, mit denen im so genannten Aufgabensetting Schüler mit Hilfe von Verben zu einer bestimmten Schreibhandlung aufgefordert werden (erläutere, begründe, stelle dar, beschreibe, untersuche, bewerte usw.). Die Schüler erfahren demnach, welche zwei Textsorten sie schreiben müssen und über die drei bis vier Arbeitsaufträge mit jeweils einem bestimmten Operator, was sie dabei Schritt für Schritt tun müssen. Nach den Vorgaben des Bildungsinstituts müssen die Aufgaben so gestaltet werden, dass die Operatoren aus allen drei Anforderungsbereichen kommen und in der Reihenfolge: Reproduktion (1), Reorganisation und Transfer (2) und Reflexion und Problemlösen (3) die Arbeitsschritte festlegen. Die item writer halten sich an die dem Prinzip des Taylorismus verpflichteten Vorgaben der Zerlegung komplexer mentaler Vorgänge und übersehen dabei in ihrem Furor, dass sich die idealtypischen Anforderungsbereiche und die dabei vorgeschriebenen Schreibhandlungen (Operatoren) in der Realität des Schreibvollzuges nur auf Kosten des Schreibflusses voneinander isolieren lassen. Das führt beispielsweise bei der Matura 2014 im 3. Paket und der 2. Aufgabe, wo eine gesellschaftliche und mediale Entwicklung erst beschrieben (1. Auftrag) und dann an Hand von Schlüsselbegriffen untersucht werden muss (2. Auftrag), zu lähmenden Wiederholungen, die aber, obwohl es um dieselbe Thematik geht, brav durch eine Leerzeile voneinander getrennt werden.

Genau nach diesem Muster müssen jetzt alle die Texte gebaut werden, die zur schriftlichen Reifeprüfung kommen können und die eine ganze Oberstufe lang eingeübt werden. Und weil zum ersten Anforderungsbereich Reproduktion z. B die Operatoren beschreiben, wiedergeben und zusammenfassen gehören und solche Schreibhandlungen ohne die Vorlage von Textbeilagen nicht aufgegeben werden können, sind bei jeder Aufgabe Texte dabei, auf die in dieser Weise eingegangen werden muss. Die Prüfungsordnungen für die AHS und BHS schreiben das nicht vor, aber das Bildungsinstitut legt, ohne dafür legitimiert zu sein, diese Vorgangsweise fest. Es beginnt folglich jeder Maturatext in Österreich, gleich um welche Textsorte es sich dabei handelt, damit, dass auf den (und die) vorgelegten Text/e eingegangen wird. Das kann im Falle eines Leserbriefes oder eines Kommentars, in denen etwas zu lesen ist, was zu einer Stellungnahme anregt, sinnvoll und angemessen sein, bei einer Rede mit dem Thema “Sehnsucht nach der Heimat“ (3. Paket 2. Aufgabe Mai 2014) oder einer Empfehlung, ob digitale Plattformen im Unterricht eingesetzt werden sollen oder nicht (2. Paket 1. Aufgabe Mai 2014), ist es das nicht. Hier bieten sich andere, die Persönlichkeit des Schülers berücksichtigende Texteröffnungen an. Der Inhalt der vorgelegten Beilagentexte (mit einem maximalen Umfang von 2000 Wörtern pro Aufgabenpaket; auch das ohne Deckung in den Prüfungsordnungen) bestimmt aber auch die weiteren Arbeitsschritte, in denen die Schreibarbeit auf den nächst höheren Anforderungsbereich gehoben wird.[4]

Mit dieser Standardisierung (Themenpakete für alle,   Definition der Textsorten und Operatoren, also Schreibanweisungen in drei Anforderungsbereichen) glaubt man, die “höchstmögliche Transparenz und Vergleichbarkeit der Prüfungsanforderungen, Objektivität, Vergleichbarkeit und somit Fairness der Beurteilungsverfahren“ gewährleisten zu können. Was damit aber in Wirklichkeit erreicht wird, ist nichts anderes als Gleichschaltung und Verhinderung von Selbständigkeit.

Der so genannte situative Kontext

Unter den Schreibdidaktikern gibt es heute einen Konsens darüber, dass die Art und Weise, was und wie geschrieben wird, vom (selbst gewählten oder fremd bestimmten) Zweck des Schreibens abhängt und mit dem Adressaten zu tun hat, an den der Text gerichtet ist. Ein Schreibakt erhält seine Konturen demnach erst durch den so genannten situativen Kontext, in dem er steht. Davon gehen auch die Aufgabenschreiber (englisch: item writer) der Zentralmatura Deutsch aus. Sehen wir uns also solche Kontexte an, mit denen es die Maturanten im Mai 2013 und 2014 bei der Generalprobe für das nächste Jahr (2015 startet die Zentralmatura für die AHS) zu tun bekommen haben.

Bei einer Aufgabe (Mai 2013, 1. Paket 1. Aufgabe) finden sich unsere Maturanten zum Beispiel beim Weltjugendkongress in London wieder. Dort müssen sie in einem Workshop als Delegierte Österreichs eine Rede (in deutscher Sprache!) schreiben. Damit bürdet man ihnen eine sie ehrende, aber unrealistische Rolle auf. Das hat nichts mit der Schulrealität und der zu erwartenden Reife eines Maturanten zu tun, aber viel mit einem Institut (BIFIE), das vor den Augen der OECD und der österreichischen Öffentlichkeit seine Fähigkeiten zur Erfüllung der derzeit angesagten Bildungsstandards demonstrieren möchte. Es ist nicht klar, was ein Schüler in dieser Rolle und Situation an Kompetenzen für seine Reife nachweisen soll, was er nicht ohne diese Vorgaben zeigen kann.[5].

Die item writer sind nicht einmal in der Lage, die Folgen der von ihnen entworfenen Situationsangaben mitzudenken. Im Mai 2013 (1. Paket 2. Aufgabe) ließen sie die Kandidaten einen offenen Brief an die Schülerzeitung der Schule schreiben und legten ihnen dabei auch eine Karikatur vor, auf die laut Arbeitsauftrag einzugehen war. Dabei haben sie – wohl auf Grund der Tradition, dass die Aufgabensteller bisher auch die Empfänger der Maturatexte sind –   vergessen, dass die Schülerzeitung, die sie selbst als Adressat eingesetzt haben, diese Karikatur nicht zur Verfügung hat und sich nicht schlecht wundern dürfte, wenn ein Schüler auf die Karikatur eingeht.

In einer anderen Aufgabe (Mai 2013, 2. Paket 1. Aufgabe) wird dem Schüler aufgetragen, einen Artikel für die Gemeindezeitung zu schreiben, in dem er, der etwa Achtzehnjährige, nachdem er sich in zwei Schaubilder eingelesen hat, dem Gemeinderat (seiner Wohnsitzgemeinde) eines von vier möglichen neuen Energieversorgungssystemen empfiehlt.

Die Beteiligung junger Menschen am öffentlichen Leben einer Gemeinde ist sicher etwas Erfreuliches. Wenn sie dies aber in Form einer Empfehlung tun, die auf nichts anderem beruht als auf der Fähigkeit zwei Schaubilder richtig zu lesen, wenn da nicht mehr ins Spiel kommt, was in einem solchen Alter schwer vorstellbar ist, wird der Gemeinderat, wenn er menschenfreundlich vorgeht, darauf hinweisen, dass er die beiden Grafiken auch schon ausgewertet, aber noch keinen Überblick darüber hat, was noch alles für eine endgültige Entscheidung für ein System berücksichtigt werden muss. Dazu braucht es noch das Erfahrungswissen der Bürger der eigenen Gemeinde, die vielleicht in Gruppen bereits kleine Eigenversorgungssysteme aufgebaut haben, das der Bürger anderer Gemeinden, aus anderen Bundesländern, die nach Jahren der Förderung den Gemeinden die Förderungsmittel für alternative dezentrale Energieversorgungssysteme gekürzt haben, so dass die Betreiber nicht mehr wettbewerbsfähig sind usw. Die Einkleidung dieser Aufgabe als “Empfehlung für den Gemeinderat“ ist ein schöner Aufputz, mit dem man der Öffentlichkeit weismachen will, dass österreichische Schüler mit Maturaniveau in der Lage sind, mit der Analyse von Schaubildern das Gemeindeleben mit zu gestalten. Auf einen solchen situativen Kontext, bei dem es aber in Wahrheit nichts zu berücksichtigen gibt, was über die Auswertung von zwei Grafiken hinausgeht, der bloße Fassade ist, sollten die item writer verzichten.

Und in wieder einer anderen Aufgabe (Mai 2013, 3. Paket 2. Aufgabe) soll der Schüler aus der Sicht eines Reiseunternehmens auf einen Bericht reagieren, der durch (angeblich) suggestive Formulierungen die ganze Branche in ein schlechtes Licht gesetzt hat. Mit einem Kommentar soll er sich in angemessener Form verteidigen. Kaum ein Schüler aber verfügt über eigene Erfahrungen als Mitarbeiter in einem Reisebüro, vielleicht ein paar aus einer Handelsakademie (laut Lehrplan: freiwilliges Praktikum vor dem Abschlussjahr), so dass grundsätzlich – wie schon bei der Delegiertenrede in London – die Fragwürdigkeit der Rollensimulation festzuhalten ist. Noch fragwürdiger ist der Verteidigungsauftrag, dem nachzukommen vielleicht dem Geist der education entrepreneur (Erziehung im Geist des Unternehmertums: didaktischer Grundsatz an den Handelsakademien) entspricht, nicht aber einem reifen Maturanten, der zuerst einmal nach den näheren Umständen der berichteten Vorgänge fragt, bevor er zu einem Verteidigungsschlag ausholt.

Solche Schnitzer sind bei der Matura im heurigen Mai nicht mehr gemacht worden, dafür wieder andere. So soll der Kandidat als Mitglied des Schulgemeinschaftsausschusses ohne Absprache mit den anderen Mitgliedern der Schülervertretung dem SGA eine Empfehlung darüber abgeben, ob Smartphones und digitale Foren im Unterricht genutzt werden sollen (Twitter-Unterricht; 2. Paket, 1. Aufgabe). Damit drängt man ihn in eine autokratische Rolle hinein, die ihm die Schüleröffentlichkeit nie durchgehen lassen würde. Der Schnitzer ließe sich leicht ausbügeln, wenn man dem Schülervertreter auftrüge, seine Empfehlung an die anderen Mitglieder des Schülergremiums zu richten, die noch nicht in die Materie eingearbeitet sind.

Das sind ein paar Beispiele für die Zumutungen, mit denen sich unsere Maturanten bei der schriftlichen Reifeprüfung – und das nur bezogen auf den situativen Rahmen – konfrontiert sehen. Das Problem dabei ist nicht der situative Kontext als solcher, sondern die Frage, wie dieser Rahmen bei der Matura als dem Übergang zu einer neuen Wirklichkeit zu gestalten wäre. Erstens sollte auf das Situationselement “Übernahme einer Rolle“, in der der Kandidat nicht er selber sein darf, sondern den Schreibakt aus der Perspektive einer anderen Person vornehmen muss, verzichtet werden. Die dafür erforderliche Erfahrung ist nur in Ausnahmefällen vorhanden. Das gilt für die außerschulische Welt genau so wie für die Lebenswelt der Schule. In den Deutschlehrplänen ist von einer auszubildenden Simulationskompetenz, wie sie das Bildungsinstitut einfordert, auch nichts zu lesen. Und zweitens sollten nur solche Situationselemente (ohne Rolle!) vorgegeben werden, die innerhalb des Erfahrungshorizonts von Maturanten liegen. Darüber hinaus sollte dem Kandidaten bei einer Aufgabe nicht vorgeschrieben werden, welche Meinung er zu vertreten hat, und sei es auch nur in einer bestimmten Rolle. Reife und Selbständigkeit zeigen sich darin, dass er selbst zu einem Urteil ohne die Anleitung durch andere kommt.

Arbeitsaufträge ersetzen die bisher von den Schülern selbst zu erstellende Gliederung

Die Maturanten sehen sich bei der neuen Zentralmatura nicht nur mit solchen schrägen situativen Kontexten konfrontiert, sondern erhalten beim Schreiben über die oben angeführten Arbeitsaufträge bzw. Operatoren auch noch relativ detaillierte Vorgaben zu inhaltlichen und formalen Bausteinen (Struktur-Komponenten), aus welchen sie ihre Texte zusammensetzen müssen. Das bedeutet aber, dass Schüler, die zur Matura antreten, nicht mehr, wie das bisher der Fall war, die Über- und Unterordnung einer zu behandelnden Thematik und die Verzweigungen einer Aufgabenstellung selber erfassen und eine Gliederung entwerfen müssen, die sie selbst zu verantworten haben und in die sie ihre Überlegungen einzuordnen haben. Das wollen die derzeit maßgebenden Bildungstechnokraten auch nicht, vielmehr wünschen sie sich Texte, die von Bregenz bis Wien an allen Schulstandorten nach demselben Muster angefertigt werden, und das geht eben nicht, wenn jeder Schüler mit einer selbst entworfenen Gliederung daherkommt. Unter anderem mit dieser Gleichschaltung glaubt man die die höchstmögliche Transparenz und Vergleichbarkeit der Prüfungsanforderungen und die Objektivität, Vergleichbarkeit und Fairness der Beurteilungsverfahren gewährleisten zu können (so die Diktion des BIFIE); insofern braucht man gar nicht mehr der Frage nachgehen, ob die im Bildungsinstitut Verantwortlichen unseren Schülern diese Selbständigkeit etwa gar nicht mehr zutrauen. Meine Vermutung geht allerdings in diese Richtung. Die item writer trauen ihnen beispielsweise beim Schreiben eines so genannten offenen Briefes an die Schülerzeitung der Schule (1. Paket, 2. Aufgabe Mai 2013) nämlich nicht einmal die Eigenständigkeit einer Brieferöffnung zu, wenn sie den Schülern als ersten Schritt dabei auftragen, ihren Text mit der Darstellung der Ausgangslage zu beginnen, andererseits vergessen, den Kandidaten darauf aufmerksam zu machen, dass er am Ende seines offenen Briefes erstens auf die Brieferöffnung zurückkommen muss und zweitens gemäß der Textsortendefinition noch einen Appell zu formulieren hat.

Mit der Vorgabe der nacheinander abzuarbeitenden Arbeitsschritte und damit der Gleichschaltung der mentalen Operationen nehmen die item writer den Schülern jedenfalls das Gliederungsgeschäft aus den Händen und tragen nun selbst die Verantwortung für den (von Fachleuten erwarteten) sinnvollen Zusammenhang der einzelnen Bauteile, aus denen sich im Hinblick auf die (hoffentlich vorhandene) übergeordnete Themenstellung ein großes Ganzes ergeben soll. Bei der Reihung der Gliederungsbausteine zur Delegiertenrede im Londoner Workshop (Mai 2013, 1. Paket 1. Aufgabe) oder bei der Meinungsrede “Sehnsucht nach der Heimat“ im Mai 2014 (3. Paket 2. Aufgabe) wird man eine solche Kohärenz freilich vergeblich suchen.[6]

Vielleicht überlegen sich die Didaktiker im BIFIE (und auch das Ministerium, auf welche alle Mängelrügen zurückfallen), was damit angerichtet wird, wenn Aufsätze jetzt jahrelang so geschrieben werden, wie man sich das im BIFIE als ideal (zur Überprüfung) vorstellt: als die durch Absätze getrennte Aneinanderreihung einzeln und nacheinander zu erfüllender Arbeitsaufträge, von denen man im besten Fall annehmen darf, dass sie das BIFIE im Wissen über das Über- und Unterordnungssystem (immer bezogen auch auf die Textsorte) von der thematischen Klammer über den Thementitel bis zu den Teilaufgaben in einen Sinn stiftenden Zusammenhang gebracht hat. Das könnte dann ein großes, im besten Fall sinnvolles, Ganzes aus miteinander kohärenten Teilelementen ergeben. Da es die Maturanten aber mit einer fremden Ordnungsphilosophie zu tun haben, wird sich ihnen die Logik des großen Ganzen, sofern überhaupt vorhanden, nicht ohne weiteres erschließen. Was wird die Folge sein? Sie werden den Arbeitsaufträgen nacheinander nachkommen, und das ohne Bezugnahme auf und Verknüpfungen mit dem bereits Erledigten oder noch zu Leistendem, was man ihnen, weil sie in einem fremden Ordnungssystem stehend schreiben müssen, auch gar nicht verübeln darf. Vice versa sind die Kollegen und Kolleginnen zu bedauern, die es bei ihrer Korrektur mit solchen schlampig verfassten Aufgabenstellungen zu tun bekommen und sich vor die Frage gestellt sehen, wem sie das angestiftete Unheil zuzurechnen haben. Es ist zu befürchten, dass der Modus den Schülern beim Schreiben die großen Strukturlinien vorzugeben in der Aufsatzerziehung über den Rückkoppelungseffekt von der Matura hinunter zu den Schularbeiten insgesamt dazu führen wird, auf den Entwurf eines Ordnungssystems zu einem Themenkomplex durch den Schüler selbst immer mehr zu verzichten, so dass seine innerhalb eines Reifungsprozesses ansprechbaren Anlagen verkümmern müssen. In wessen Interesse steht das?

Anmerkung zu den zu behandelnden Textbeilagen

Maturareife bedeutet jetzt: von anderen entwickelte Überlegungen identifizieren, paraphrasieren und reorganisiert in die eigene Arbeit einbauen können. Durch die detaillierten Gliederungsvorgaben und die verpflichtende Bearbeitung von Texten, die einen Maximalumfang von 2000 Wörtern pro Themenpaket haben können, bildet sich in einer solchen Maturaarbeit nur mehr wenig die Eigenständigkeit und Persönlichkeit des Kandidaten ab, aber viel mehr seine Fähigkeit im Hinblick auf vorgegebene Thematiken von anderen entwickelte Überlegungen zu identifizieren und in anderen Schreibzusammenhängen reorganisiert einzubauen. Das ist mit Ausnahme der literarischen Themenstellungen im Mai 2013 (3. Paket, 1. Aufgabe) und im Mai 2014 (1. Paket 1. Aufgabe), bei denen die Kandidaten allerdings im Hinblick auf klärende Informationen zu den textexternen Elementen allein gelassen worden sind) bei den anderen fünf (!) der sechs Aufgabenstellungen beider “Probematuren“ der Fall. Sicher sollen Maturanten aus allen Schultypen den Umgang mit Texten jeder Art nachweisen können. Nur sollte ihnen daneben auch noch Platz gelassen und Zeit gegeben werden, ihre eigenen Überlegungen anzustellen. Das BIFIE tut zurzeit so, als würden unsere Maturanten aus ihren jeweiligen Schulen dafür überhaupt nichts mitbringen, so dass man ihnen mit Gliederungsvorgaben und Inhalten, an denen sie sich dann vielleicht ein bisschen noch entzünden dürfen, unter die Arme greifen muss.[7] Abgesehen davon sollten Beilagentexte, wenn sie vorgelegt werden, auch zur Aufgabenstellung in einem sinnvollen und nicht in einem verwirrenden Zusammenhang stehen, wie das bei der Delegiertenrede in London der Fall gewesen ist.[8]

Problematik der Textsorten

Ab Beginn der Zentralmatura muss jeder Schüler zwei von den Textsorten her unterschiedliche Aufgaben schreiben. Das ist für die AHS neu, für die BHS hat dieser Modus Tradition. Die Verdopplung der Schreibaufgaben bewirkt bei gleich bleibender Textmenge (900 plus/minus 10 Prozent) beispielsweise bei einer Erörterung die Reduzierung der dafür zu investierenden Zahl der Wörter um mindestens dreißig und sogar um fünfzig Prozent, je nachdem, wie viel für die zweite Aufgabe verlangt wird. Für die Erörterung – bisher die Parade-Textsorte der AHS schlechthin – bedeutet das ein weniger tief reichendes Eingehen und Erarbeiten einer Problematik, deren Qualität noch nach unten revidiert werden muss, weil man berücksichtigen muss, dass die Aufgabenschreiber erstens die Gliederung vorgeben und zweitens in den zu bearbeitenden Textbeilagen auch noch Inhalte zur Verfügung stellen, die zur Bewältigung der Aufgabe nur mehr paraphrasiert und reorganisiert übernommen werden müssen. Das ficht die derzeit maßgebenden Bildungspolitiker im BIFIE (und Ministerium?) überhaupt nicht an, weil sie von der längeren Erörterung, wie sie bisher an den AHS geschrieben worden ist, wenig bis gar nichts halten. Mit den vielen formalen und inhaltlichen Vorgaben schüttet man allerdings die Freiräume zu, welche gerade diese Textsorte dem Denken eröffnet, das ohne Anleitung zu einem eigenständigen Urteil kommen möchte. Bezeichnenderweise fehlte diese Textsorte bei der Matura im Mai 2013. Bei der Matura 2014 (1. Paket 2. Aufgabe) gab es eine Erörterung und die so genannte thematische Klammer “Verantwortung gegenüber Umwelt und Natur“ (die auch der Bearbeitung des Textes von Hausmann zugedacht war!) ließ auch eine differenzierende Behandlung erwarten. Durch den Fokus auf das medial mehrfach gebrochene und relativierte Geschehen bei der Errichtung des Drei-Schluchten-Damms am Jangtse und die Vorgaben der Arbeitsaufträge hat man es in Wahrheit aber mit einer Engführung der Perspektiven zu dieser Thematik zu tun. Bei so gestellten Aufgaben ist eine   Erörterung nichts anderes als eine Umformulierung der Textbeilage, die ihrerseits nur ein Beispiel für das weit gefasste Thema ist. Die Themenklammer “Verantwortung gegenüber Umwelt und Gesellschaft” ist daher Blendwerk für die Öffentlichkeit.

Eine Empfehlung sollte so formuliert werden, dass der Schreibakt für denjenigen, der die Empfehlung abgeben, aber auch für denjenigen, der sie erhalten soll, so weit wie möglich der Lebenswirklichkeit entspricht. Das aber ist, wenn Achtzehnjährige dem Gemeinderat anhand von zwei Schaubildern die Einführung eines bestimmten Energieversorgungssystems empfehlen, nicht der Fall (Mai 2013, 2. Paket 1. Aufgabe). Eigene Erfahrungen liegen auch nicht vor (Mai 2014, 2. Paket 1. Aufgabe: Twitter-Unterricht) bei der Empfehlung über den Einsatz digitaler Medien im Unterricht. Die Schüler müssen sich stattdessen der Informationen aus einem Medium bedienen, welches über deren Einsatz an deutschen und amerikanischen Schulen berichtet. Welche Erfahrungen auch immer an deutschen und amerikanischen Schulen gemacht und von Experten berichtet werden, ein österreichischer Schüler kennt die konkrete Situation an diesen Schulen nicht, so dass seine Empfehlung entlang der Argumentationslinie “Übertragbarkeit auf Österreich“ laufen müsste. Eine Soll-/Soll-Nicht-Aufgabe kann natürlich gestellt werden, wenn sie aber speziell die Form einer Empfehlung annimmt, muss die “Befundung“ auf Wissen aufbauen und nicht auf medial vermittelte Annahmen, eben so, wie es das Bildungsinstitut als für eine solche Textsorte wesentlich festgelegt hat. Die Aufgabenschreiber müssen in Zukunft Situationen ausfindig machen, wo junge Menschen tatsächlich mehr wissen und/oder Erfahrungen haben als andere (z. B. Achtzehnjährige im Vergleich mit Jüngeren), sonst liegt keine Empfehlung vor.

Einen unprofessionellen Umgang mit der Textsorte Leserbrief haben sich die item writer heuer geleistet (3. Paket 1. Aufgabe). Die Schüler müssen sich in ihrem Text auf eine in Brüssel lebende österreichische Geschäftsfrau beziehen, von der sie in einem Zeitungsbericht sehr wenig Zitierbares erfahren, und dabei Untersuchungen anstellen über deren mögliche Ziele und diese sogar noch bewerten. Auf bloßen Vermutungen und Begriffen, die von der beurteilten Person nicht selbst stammen (zum Beispiel der Begriff Heimatgefühl, von den item writern vorgegeben) darf man aber keine Bewertung aufbauen. Den Aufgabenschreibern und Experten (!) muss man den Vorwurf machen, dass sie mit dieser Schreibaufgabe den Ansprüchen einer seriösen Leserbrief-Poetik nicht genügen.

Einen besonders bunten Vogel abgeschossen hat man heuer bei den Angaben zur Textsorte Meinungsrede, bei denen es das Expertenteam im BIFIE schafft, unter dem Dach der thematischen Klammer “Rückkehr zu traditionellen Werten?“ das Rede-Thema “Sehnsucht nach der Heimat“ von der Situationsangabe weg und vom ersten bis zum vierten Arbeitsauftrag bis zur Unkenntlichkeit zum Verschwinden zu bringen. Die beiden Textbeilagen dürfte das Expertenteam bei der Überprüfung ihrer Eignung für die Arbeitsaufträge nur überflogen haben, sonst hätte ihnen auffallen müssen, dass sich diese zwar auf die Art und Weise beziehen, wie Medien mit einem vorgeblichen Trend (Rückkehr althergebrachter Werte) umgehen, aber nicht auf Vorgänge in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, so dass die Schüler diesbezüglich hängen gelassen werden.

Die item writer sollten sich bei ihren Aufgabenstellungen, was die Etikettierung der beauftragten Textsorten betrifft, auch an die vom Bildungsinstitut vorgenommenen Standardisierungen halten.[9]. Dass bei einem Maturatermin mit sechs Aufgabenstellungen aufs Ganze gesehen keine Textsorte ein zweites Mal vorkommt, was – zugegeben – schwierig sein dürfte, sollte kein Grund sein, gegen die eigenen Festlegungen gerichtete Umetikettierungen vorzunehmen. Den Prüfungsordnungen ist lediglich zu entnehmen, dass die Textsorten innerhalb eines Paketes verschiedene sein müssen.

Das Bildungsinstitut hat die Textsorten hinsichtlich ihrer Gestaltungskriterien zwar präzise definiert, bricht ihre jeweilige Dynamik aber dadurch, dass sie zu einer Textsorte, die am Kopf der Aufgabenstellung benannt wird, alle möglichen Arbeitsaufträge formulieren, die man nicht unbedingt mit ihr verbindet. Zum Beispiel soll ein Schüler, der eine Rede schreiben soll, erst einmal einen Zeitungskommentar zusammenfassen (Mai 2013 1. Paket 1. Aufgabe), bei einem offenen Brief, der einer Schülerzeitung geschrieben wird, weil diese bei den Schülern intensiv für die Facebook-Mitgliedschaft geworben hat, soll der Schüler auf eine ihm vorgelegte Karikatur eingehen, welche der Schülerzeitung nicht zur Verfügung steht, und auf Untersuchungsergebnisse, die mit dem Schreibanlass nichts zu tun haben, deren Berücksichtigung ihn aber vergessen lassen, dass ein offener Brief laut BIFIE-Definition mit einem Appell enden sollte (Mai 2013 1. Paket 2. Aufgabe). Gegen in kleinerem Umfang zu erledigende Arbeitsaufträge ist nichts einzuwenden, sehr wohl aber gegen solche, welche die Transparenz einer Aufgabenstellung verschlechtern, indem sie von einem wesentlichen Strukturmerkmal der Textsorte ablenken.

Die Aufweichung der Textsorten (nach der Idealtypisierung in der Textsortendefinition) durch die Detailaufträge steht aber auch in einem ganz banalen Kontext. Mit ihnen kann die Beherrschung bestimmter Operatoren, welche dem Bildungsinstitut in seinem System der Operatorenhierarchie wichtig sind und die sich nach Möglichkeit in jedem Setting wiederfinden sollen, Stück für Stück überprüft werden. Da macht es dann auch nichts aus, wenn beispielsweise eine Zusammenfassung des ganzen Artikels verlangt wird, von dem aber nur auf die Thematik bezogene Informationen benötigt würden wie bei der Delegiertenrede London (Mai 2013 1. Paket 1. Aufgabe) oder im Paket 2 “Neue Medien“ (Mai 2014), wo rund 80 Prozent der Beilagenzeilen für den Kommentaraspekt überflüssig sind); ganz abgesehen davon, dass ein Redeeinstieg mit der Wiedergabe von Informationen oder Zusammenfassungen von Zeitungsartikeln nur einschläfern kann (2013 und 2014).

Ziele und Auswirkungen der Zentralmatura

Nach der Analyse der Prüfungsanforderungen der Matura Mai 2013 und 2014 lässt sich im Hinblick auf die Ansprüche des Bildungsinstituts an die von ihm entwickelte Zentralmatura folgendes Fazit ziehen:

  1. Die Experten ganz oben im Bildungsinstitut versagen bei der Aufgabe, einen nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Zusammenhang herzustellen zwischen der Themenklammer, dem Thema der Aufgabe, der Situationsangabe, der Textsorte und den Arbeitsaufträgen. Es genügt halt nicht, für die Implementierungsphase (auch internationalen) Sachverstand zuzukaufen und sich mit ausgezeichneten Aufsätzen auf der Homepage auf der Höhe der Didaktik-Theorie zu präsentieren. Den Qualitätsanspruch, den man mit diesen Namen erweckt, muss man auch in der Praxis der Aufgabenstellungen von Maturatermin zu Maturatermin einhalten, auch wenn man das ohne Mitwirkung dieser Spitzen-Didaktiker tun muss, die sich vom BIFIE schon wieder verabschiedet haben. Die vom BIFIE vollmundig behauptete “höchstmögliche Transparenz“ der Prüfungsanforderungen ist in der Form, wie sich das Aufgabensetting bei beiden Reifeprüfungen präsentierte, jedenfalls nicht gegeben (im Folgenden ad 1).
  2. Die Vergleichbarkeit der Prüfungsanforderungen hört sich gut an, ist aber in Wirklichkeit eine Leerformel. Diese läuft auf die Trivialität hinaus, dass alle Schüler dieselben Aufgaben gestellt bekommen (im Folgenden ad 2).
  3. Die vollmundig garantierte Vergleichbarkeit der Beurteilungsverfahren stellt sich bei genauerem Hinschauen als die Information darüber heraus, dass die Arbeiten alle nach demselben Beurteilungsraster begutachtet werden. Dieser ist zwar besser als der alte, aber nach wie vor keine Garantie für die Objektivität eines Gutachtens (im Folgenden ad 3).
  4. Wenn sich der Schreibunterricht am derzeitigen Setting der Aufgabenstellungen orientiert, wird das an den höheren Schulen tatsächlich langfristige Auswirkungen haben; allerdings nicht auf die Qualitätssicherung und Qualitätssteigerung, die sich das Bildungsinstitut erwartet (im Folgenden ad 4)

Ad 1) Das Bildungsinstitut garantiert “höchstmögliche Transparenz“. Von dieser bleibt, wenn darunter die optimale Verstehbarkeit der Aufgabenstellungen zu verstehen ist und man den vollmundig formulierten Anspruch an den sechs Aufgaben der Matura im Mai 2013 und 2014 überprüft, nicht mehr viel übrig. Die so genannten thematischen Klammern (vom System der HAK-Matura übernommen), mit denen angeblich die zwei Aufgaben in einem Themenpaket zusammengehalten werden, sind nichts als schmückendes Beiwerk. Dass sie keine Funktion im Hinblick auf die Schreiboperationen haben, also gar nicht beachtet werden brauchen, muss vom Schüler, der mit Situationsangaben und Aufträgen zugedeckt wird, erst einmal erkannt werden. Weiter halten sich die item writer, wenn sie zu einer Aufgabe eine bestimmte Textsorte vorgeben, nicht an die vom BIFIE vorgelegten (von den Schülern aber einstudierten) Textsortendefinitionen. Das ist, wie oben dargestellt worden ist, bei insgesamt 6 Aufgaben (Mai 2013) gleich dreimal der Fall. Sie geben beispielsweise durch widersprüchliche Adressatenbezüge (offener Brief an eine Schülerzeitung Mai 2013 1. Paket 2. Aufgabe) weiteren Anlass zur Verwirrung. Die Transparenz einer Aufgabenstellung wird auch beeinträchtigt, wenn einem Maturanten die Übernahme von Rollen aufgetragen wird, die seinen Erfahrungshorizont übersteigen, wie das bei drei Aufgabenstellungen im Mai 2013 der Fall gewesen ist. Die “Verstehbarkeit“ der Aufgabenstellung einen Leserbrief zu schreiben, leidet, wenn in dem Kommentar, auf den Bezug genommen werden soll, bereits alles gesagt ist, so dass kein Raum für Eigenständigkeit bleibt; wie überhaupt die zu bearbeitenden Texte um einiges zu lang sind. In Bezug auf die Untereinanderkonstellation der Arbeitsaufträge kann tatsächlich von “höchstmöglicher Transparenz“ gesprochen werden, da diese unzweifelhaft als eine “Nacheinander-Erledigung“ begriffen werden müssen.

Ad 2) Kopfzerbrechen bereitet der Anspruch der Vergleichbarkeit der Prüfungsanforderungen. Wenn von Vergleichbarkeit die Rede ist, muss etwas, was verglichen wird, miteinander in Bezug auf etwas Drittes verglichen werden können. Zum Beispiel könnte der Schwierigkeitsgrad der drei Pakete (als solcher) miteinander verglichen werden. Das stelle ich mir im Hinblick darauf, dass da jeweils ziemlich viele Messgrößen ins Spiel kämen, äußerst kompliziert vor. Dass das Bildungsinstitut beim Testgütecheck vor der Ausgabe dieser Maturaversion dafür Messzahlen entwickelt hat, ist unwahrscheinlich. Bestimmt etwas leichter vergleichbar hinsichtlich ihres Schwierigkeitsgrades könnten Aufgaben sein, die in der gleichen Textsortenqualität abzufassen sind. Zwei gleiche Textsorten (in verschiedenen Paketen) hat es aber bei der Matura im Mai 2013 nicht gegeben. Dass alle Schüler in Österreich mit der Zentralmatura das Schreiben derselben neun Textsorten in ihrem Repertoire haben müssen, kann man auch nicht auf die Formel der Vergleichbarkeit der Prüfungsanforderungen bringen; es sind schlichtweg nur dieselben. Offensichtlicht handelt es sich beim vollmundig verkündeten Anspruch der Vergleichbarkeit der Prüfungsanforderungen um nichts anderes als um eine Leerformel, die sich – zugegeben – gut anhört. Nach der alten Matura hat es die Vergleichbarkeit (diesmal richtig verstanden!) im Übrigen immer gegeben. Man braucht sich dazu nur die Jahresberichte der Schulen durchlesen, in denen man die verschiedenen Aufgabenstellungen zur Textsorte Erörterung, einer Interpretation (von Gedichten oder Kurzgeschichten) usw. nachlesen kann.

Ad 3) Mit der neuen Zentralmatura wird auch die “Objektivität, Vergleichbarkeit und somit Fairness der Beurteilungsverfahren“ garantiert. Dazu haben die Testpsychologen und Evaluationsspezialisten im Bildungsinstitut den bisher gehandhabten Kriterienkatalog an einigen Punkten erweitert, die Unbestimmtheit bisher allgemein gehaltener Kriterienaspekte zu verringern versucht und nach Möglichkeit präzise Festlegungen vorgenommen (auch durch die Angabe von Zahlen), so dass man in dieser Hinsicht tatsächlich von einer Verbesserung sprechen kann. Durch die Standardisierung der Textsorten und die Formatierung der Texte durch die als Gliederungsvorgaben wirksamen Arbeitsaufträge wird beispielsweise das Beurteilen der Strukturqualität einer Maturarbeit tatsächlich etwas leichter fallen. Auch bei der Bewertung der Dimension “Aufgabenerfüllung in Bezug auf Stil und Ausdruck“ und “Aufgabenerfüllung hinsichtlich normativer Sprachrichtigkeit“ muss man von Verbesserungen gegenüber dem alten System sprechen, weil man hier Mut bewiesen und mit Festlegungen operiert hat. Angesichts der extrem hohen Zahl unbestimmter Begriffe, die als Folge des um viele Aspekte erweiterten Kriterienkatalogs mit vielen weiteren Subkategorien dazu gekommen sind, die aber erst wieder durch vom Gutachter vorzunehmende Wertungen präzisiert werden müssen, muss man die Objektivität des Beurteilungsverfahrens, die das Bildungsinstitut mit diesem neuen Bewertungsraster gewährleistet sieht, grundsätzlich für den falschen Anspruch halten. Die Beurteilungsprobleme bei einer Deutscharbeit lassen sich auch bei   noch so vielen Festlegungen und Formatierungen nicht mit denen bei einem Mathematik-Test vergleichen. Der für die Zentralmatura entwickelte Beurteilungsraster ist zugegeben eine Verbesserung, eine Garantie für Objektivität der Bewertung ist er nicht (wenn mit Objektivität die Garantie gemeint ist, dass jeder Testleiter auf Grund der Testdaten und deren Auswertung auf dasselbe Ergebnis kommt). Und das muss man auch nicht der Öffentlichkeit weismachen. Dieser sollte man lieber eingestehen, dass man den Vorschlag des Kompetenzteams, die Maturaarbeiten von zwei Lehrern begutachten zu lassen (Vier-Augen-Prinzip), aus Kostengründen verworfen hat. Die hoch bedeutsam klingende Formulierung der “Vergleichbarkeit der Prüfungsverfahren“ stellt sich bei genauerem Hinschauen also als die triviale Information darüber heraus, dass die Deutschlehrer die Maturaarbeiten alle nach demselben Bewertungsraster beurteilen. Die Prüfungsverfahren sind Gott sei Dank nicht miteinander vergleichbar. Das könnten sie nur sein, wenn sie verschieden wären. In Wirklichkeit sind sie überall dieselben.

Tatsächlich verglichen werden könnten die Gutachten von zwei oder mehreren Deutschlehrern zur selben Maturaarbeit. Aber auch dann geht es wiederum nicht um die Vergleichbarkeit der Prüfungsverfahren, sondern um den Nachvollzug, wie der Bewertungsraster angewendet worden ist. Auf diese Weise ließe sich einiges herausfinden über die Qualität der Aufgabenstellung und die Brauchbarkeit des Beurteilungsrasters.

Ad 4) Was also wird durch die Zentralmatura langfristig bewirkt?   Die “dauerhafte“ Qualitätssteigerung und -sicherung an Österreichs allgemein- und berufsbildenden höheren Schulen“, wie es das Bildungsinstitut verspricht? Wenn Schüler aber eine lange Oberstufe lang keine von ihnen selbst verantwortete Texte mehr schreiben dürfen, die Problematiken nicht mehr selbst erschließen, sondern bereits Vorformuliertes in vorgegebenen Strukturelementen neu arrangieren müssen (mit verschwimmenden Grenzen zum copy and paste), dann läuft diese Form einer Zentralmatura mit ihren Rückkoppelungseffekten auf eine lange Schullaufbahn nicht auf die beschworene “erhöhte Studierfähigkeit“ (so auf der Homepage des BIFIE), sondern in Wahrheit auf Schreib- und Denkformatierung, Abrichtung und Entmündigung hinaus. Die Zerlegung von Arbeitsprozessen zwecks Optimierung der Effektivität, Qualitätsverbesserung, und Kontrolle des Mitteleinsatzes mag bei der maschinellen Anfertigung von Schaumschlägern, mobilen Robotern, von Kuckucksuhren, IKEA-Kästen, künstlich gelöcherten Jeans, Pizza-Käse usw. angebracht sein, auf die Steuerung so komplexer mentaler Prozesse wie das Schreiben von Texten sind die Prinzipien des Taylorismus nicht übertragbar. Daher ist die Zentralmatura in dieser Form abzulehnen.

Juristische Abklärung des Verhältnisses Unterrichtsministerium – Bildungsinstitut

Es muss juristisch abgeklärt werden, ob das derzeitige Setting der Aufgabenstellungen durch das Bildungsinstitut, das keine Behörde ist, demnach keine Verordnungsgewalt hat, von den Prüfungsordnungen für die AHS- und BHS-Matura gedeckt ist. Meines Erachtens geht das BIFIE mit seinem Setting über die vom Unterrichtsministerium erlassenen Bestimmungen hinaus.

Bei zwei Aufgaben der Matura Mai 2013 (1. und 3. Paket) wird die Simulation von Rollen verlangt. Das aber sehen weder die Prüfungsordnungen noch die Lehrpläne vor. Den Prüfungsordnungen lassen sich (bis auf die literarische Themenstellung) auch keine Bestimmungen entnehmen, wonach der zu schreibende Maturatext schwerpunktmäßig zu einer schriftlichen Auseinandersetzung mit Texten wird. Den Prüfungsordnungen lassen sich weiter keine Bestimmungen darüber entnehmen, dass den Kandidaten die Reihenfolge der Abschnitte vorgeschrieben wird, aus denen sich ein Ganzes ergeben soll. Das Unterrichtsministerium als der vom Gesetz dafür zuständige Verordnungsgeber wird prüfen müssen, was es von dieser Konkretisierung der Prüfungsmodalitäten durch das BIFIE halten soll, die über den Wortlaut der Verordnungen hinausgehen. Dass sich hier ein weites Betätigungsfeld für Rechtsanwälte auftut, welche die verweigerte Studienberechtigung bei nicht bestandener Reifeprüfung beeinspruchen werden, sollte mitbedacht werden.

Im Übrigen wird es Zeit abzuklären, wer in Österreich das Sagen hat: das Unterrichtsministerium oder das Bildungsinstitut.


[1] In diesem Aufsatz werden die Ergebnisse meines Gutachtens zur Zentralmatura Deutsch Mai 2013, das ich im Auftrag der IG geschrieben habe (auf der Homepage der IG nachzulesen) in gekürzter Form mit denen zur Matura Mai 2014 verbunden. Die mehrfach geäußerte Fundamentalkritik der IG Autoren an der Zentralmatura, ihre Forderungen im Zusammenhang speziell mit der Aufgabenstellung zur Literatur werden hier als bekannt vorausgesetzt, so dass an dieser Stelle darauf nicht mehr eingegangen wird. Mehrfachbezüge zu den Themenpaketen und Aufgaben werden sich nicht vermeiden lassen, da das Aufgabensetting aus vielen Dimensionen besteht und zwecks Darstellung der Mängel dieselben Aufgaben, aber immer wieder unter einem anderen Aspekt herangezogen werden müssen. Die Maturaaufgaben können auf der Homepage des BIFIE www.bifie.at eingesehen werden

[2]Auf die darauf bezogenen Ungeheuerlichkeiten, die in den Medien (Salzburger Nachrichten vom 9. Mai und in der Standard Online-Ausgabe vom 12. Mai ausführlich dargestellt worden sind, braucht an dieser Stelle nur verwiesen werden; ergänzt werden muss die Kritik um den Hinweis, dass Maturanten, auch wenn sie nur textimmanent interpretieren müssen, wie das die item writer vorsehen, mit immerhin rund einem Drittel des gesamten Textes, das der   Entlastung für die Vernichtung des Kriechtiers dient, angesichts der ihnen fremden Begrifflichkeiten nicht zurechtkommen können.

[3] An der AHS war und ist laut Prüfungsordnung bis zum Beginn der Zentralmatura 2015 ein Text zu schreiben, der dafür aber dieselbe Wörterzahl hat wie die beiden Aufgaben der BHS zusammen.

[4] Das schwerpunktmäßige Eingehen auf Beilagentexte und die Auseinandersetzung mit ihnen (wie es bisher bei allen zehn (!) nichtliterarischen Aufgabenstellungen der Fall gewesen ist, ist von den Prüfungsordnungen für die AHS und BHS nicht gedeckt. Ohne eine Behörde zu sein, spielt das BIFIE hier die (allein dem Ministerium zukommende) Rolle eines faktischen Verordnungsgebers (vgl. dazu auch Z. 3).

[5] Er soll sich in seiner Rede unter anderem mit drei Menschenrechtsartikeln der UNO auseinandersetzen und erörtern, ob die Publikationspolitik von WikiLeaks davon gedeckt ist. Da die für die Aufgabenformulierung Verantwortlichen im BIFIE nicht mitbekommen haben, dass diese Artikel nirgends auf der Welt gelten, und in ihrer Unbekümmertheit im Umgang mit Normen auch nicht verstanden haben, worum es inhaltlich dabei geht, lenken sie die Kandidaten in eine Richtung, die nur Verwirrung stiften kann. Ein österreichischer Schüler würde mit seiner nach diesen Gesichtspunkten gehaltenen Rede bei den Jugendlichen aus aller Welt, die von ihrem Heimatland mit besseren Informationen ausgestattet worden sind, für große Heiterkeit sorgen.

[6] Bei der Delegiertenrede in London hat das unter anderem damit zu tun, dass zwar der Workshop ein Thema hat (Das universelle Recht auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit vor dem Hintergrund der neuen Medien, speziell des Internets), nicht aber die beauftragte Rede. Diese besteht dann in nichts anderem als in der Montage der bearbeiteten Detailaufträge. In einem ersten Schritt haben die Schüler “die wichtigsten Informationen“ der bereits oben angesprochenen Menschenrechtsartikel und einen relativ langen und mit diesen Artikeln inhaltlich nicht in Verbindung stehenden Kommentar eines österreichischen Journalisten zusammenzufassen. Im anschließenden Arbeitsauftrag muss die juristische Deckung der Publikationspolitik von WikiLeaks erörtert werden, muss man also wieder an die Menschenrechtsartikel anknüpfen. Zwischen diesen und der nun einsetzenden Erörterung steht aber die Zusammenfassung des Journalistenkommentars, der sich mit einer ganz anderen Problematik auseinandersetzt. Einen stimmigen Zusammenhang zwischen den nacheinander zu bearbeitenden Arbeitsaufträgen als Gliederungsvorgaben gibt es also nicht. Und weil die item writer mit ihrem Unverständnis über die Bedeutung der zu bearbeitenden Menschenrechtsartikel auch die falschen Fragen an die Schüler herantragen. – Eine heillose Verwirrung hinsichtlich der Abfolge und Kohärenz der Arbeitsaufträge war auch bei der “Sehnsuchts-Rede“ im Mai 2014 festzustellen. Alle vier Arbeitsaufträge (siehe auch Z. 4) stehen zu dem   unter der übergreifenden Themenklammer (“Rückkehr zu alten Werten?“) angeführten Rede-Thema “Sehnsucht nach der Heimat“ in einem Wirr-Verhältnis, so dass sich kein sinnvolles Ganzes ergeben kann. Das aber haben nicht die Schüler zu verantworten.

[7] Beispiel Leserbrief zu einem vorgegebenen Kommentar, der inhaltlich bereits alles vorwegnimmt; so im 2. Paket, 2. Aufgabe Mai 2013; gilt in gleicher Weise für die Erörterung zum Drei-Schluchten-Damm: 1. Paket 2. Aufgabe Mai 2014

[8] Mai 2013 1. Paket 1. Aufgabe; genau so aber auch heuer beim 2. Beilagentext zum 2. Paket, 2. Aufgabe: Kommentar zur Frage, ob durch Handy und Co. ein Verlust der Sprachkompetenz droht: Der Text schießt mit anderen nicht zum Zusammenhang des Kommentaraspekte gehörenden Informationen weit über das Ziel.

[9] Der offene Brief im 1. Paket 2. Aufgabe (Mai 2013) ist ein Leserbrief und kein offener Brief; genau so ein Leserbrief (und kein Kommentar) ist der zu schreibende Text im 3. Paket 2. Aufgabe (Mai 2013).