Michael Köhlmeier “Sunrise”

Eine Leseempfehlung für die Ferien

 

(ABGEDRUCKT IM JAHRESBERICHT DES MUSISCHEN GYMNASIUM 2004/05)

Michael Köhlmeiers Erzählung “Sunrise” (1994)
Fischer TB12920, 75S – 7,10 €

Im Folgenden wird ein Prosatext des bekannten Vorarlberger Autors vorgestellt, der in einer 6. Klasse und auch im Schwerpunktfach „Kreatives Schreiben“ dieser Jahrgangsstufe gelesen und bearbeitet worden ist und von den SchülerInnen die besten Noten erhalten hat („spannend“, „unterhaltsam“, „geschickt gebaut“); ein Urteil, das auch von den Rezensenten dieser Arbeit geteilt wird.

„Sunrise“ (Sonnenaufgang) ist eine kunstvoll gebaute Erzählung, einer Novelle nicht unähnlich und hat märchenhafte und fabelhafte Züge. Da tritt der leibhaftige Tod als Akteur auf und wie im Dornröschen auch wird einmal die Zeit für eine Stunde angehalten. Da mehrere Personen als Geschichtenerzähler und als Zuhörer auftreten, durch deren Einschaltungen sich der Erzählvorgang phasenweise zu einem Dialog gestaltet, finden wir im gesamten Text einen am mündlichen Erzählen orientierten Sprechduktus und eine einem dramatischen Geschehen auf einer Bühne nicht unähnlichen Handlungsverlauf. Der Verlag zeichnet den Text als eine Erzählung aus. Auf die germanistische Streitfrage, ob der Text nun als solche oder als eine Novelle anzusehen ist, werde ich hier nicht eingehen und verwende beide Begriffe im Folgenden in der gleichen Bedeutung. Den Grundeinfall für seine Geschichte hat Köhlmeier, wie in Rezensionen vermutet wird, von dem amerikanischen Regisseur Richard O`Brian („The Rocky Horror Picture Show“). Dazu würde passen, dass er der Hauptperson seiner Erzählung eben diesen Vornamen gibt, so dass wir darin wohl die Referenz des Autors gegenüber seinem Ideenspender erblicken dürfen.

Die Erzählung besteht aus einer Rahmenhandlung und zwei Binnengeschichten, die auf raffinierte Weise inhaltlich aufeinander bezogen sind. Auf zwei Ebenen geht es um nicht Geringeres als um Leben und Tod. In der ersten Binnengeschichte wird die Scheherazade- Situation variiert, nämlich: dass man durch Geschichtenerzählen den Kopf aus der Schlinge ziehen und sein Leben retten kann. Diese Handlungsempfehlung greift allerdings nicht für die erste Fiktionsebene, denn dort wird eine der beiden Hauptpersonen, als sie sich selbst als Geschichtenerzähler betätigt bzw. eine begonnene Geschichte weiter spinnt, vom Tod ereilt. Der äußere Rahmen ist weiter eine Geschichte über den Tod eines jeden von uns, dessen Zugriff wir erst im allerletzten Moment begreifen. Einfach und großartig in der Wirkung zieht Köhlmeier in der Textdramaturgie eine Analogie zu der großen Überrumplung, die jeden von uns am Lebensende treffen wird.

In der Rahmengeschichte sitzen zwei Autostopper kurz vor Sonnenaufgang am Rand einer Straße, warten auf eine Mitfahrgelegenheit und vertreiben sich die Zeit mit Geschichtenerzählen. Der eine von den beiden ist Richard. Er ist mit dem Erzählen an der Reihe, denn das Los hat für ihn und gegen seinen Begleiter entschieden, der aus guten Gründen namenlos bleibt, aber als „ich“ gekennzeichnet ist und den Part des Autostoppers übernimmt. Richard erzählt also dem anderen Autostopper eine Geschichte, und zwar die von Leo Pomeranz, Rita Luna und dem Dünnen. Leo Pomeranz, ein heruntergekommener, vom Alkohol gekennzeichneter amerikanischer Landstreicher, hat beschlossen, sein Leben grundlegend zu ändern. Er überquert eben einen Boulevard in Los Angeles, wird von einem blinkenden Gegenstand, den ein langer, dünner Mann auf der anderen Straßenseite in der Hand hält, geblendet, übersieht einen Kombi, dieser kommt beim Bremsen ins Schleudern, schlingert auf Leo zu, an ihm haarscharf vorbei, stößt Rita Luna, eine Stripperin, die von ihrer Nachtarbeit nach Hause eilt, nieder und verletzt diese tödlich. So wie Richards Begleiter erfahren auch wir, die Leser, spätestens an dieser Stelle, die wahre Identität des Dünnen, der dritten Person in der ersten Binnengeschichte. Der Dünne ist niemand anderer als der Tod und der blinkende Gegenstand ist eine Sichel, die von ihm geworfen wird. Aber der Tod ist, wie wir gesehen haben, an diesem Morgen schlecht in Form. Doch es soll noch überraschender kommen. An diesem Morgen tut er etwas, wovon die gesamte Menschheit träumt. Er lässt sogar mit sich reden. Rita Luna hat die Sichel in ihrer Brust stecken und findet diese Wendung des Schicksals höchst ungerecht – im Gegensatz zu Leo Pomeranz. Rita will das nicht akzeptieren. Und schon sind die Figuren der Binnenerzählung mitten in einer Debatte, wer von den beiden das bessere Recht auf das Leben hat. Vom Tod verlangen sie eine endgültige Entscheidung. Der aber reagiert, weil er ein Köhlmeierscher Tod ist, schon wieder unerwartet und lehnt eine Entscheidung ab. Sie mögen die Sache untereinander ausmachen und formuliert die näheren Bedingungen. Er wird Rita Lunas Leben, das eigentlich schon abgelaufen ist, um eine Stunde verlängern. In dieser Zeit werden die beiden jeder eine halbe Stunde lang versuchen, die besseren Argumente für ihre Verschonung zu formulieren. Dafür muss der Tod die Zeit eben für eine Stunde anhalten; das wird, wie es Köhlmeier ausdrückt, die Bürger von Los Angeles ein kleines Stück ihres Sonnenaufgangs kosten, das er abschneiden wird. Während die beiden also um ihr Leben reden, steht das Leben in Los Angeles – wie am Königshof im Märchen Dornröschen auch – still. Die von Richards Binnenerzählung ihrerseits also abhängigen Lebensbeichten von Leo Pomeranz und Rita Luna (die zweite Binnengeschichte) sind geraffte Konzentrate aus dem Absurditätenfundus des Liebesglücks und Liebesleides; köstlich nachzulesen das mit antikem Bildungsgut verbrämte Plädoyer von Leo, die Darstellung seiner kindlich-naiven Liebe zur kleptomanen Tante – oder der schnoddrig-impulsiv vorgetragene todtraurige Bindungskonflikt zwischen Rita und ihrem feurigen Mexikaner. Die je halbstündigen Lebensbeichten finden im gerecht aufgeteilten Zeilenquantum, das der Autor dafür aufwenden lässt, ihre Entsprechung.

In beiden Erzählungen herrschen strenge situative und thematische Entsprechungen. Die beiden Autostopper im äußersten Rahmen befinden sich an irgendeiner Straße irgendwo auf der Welt Das hat seinen guten Grund, weil die Geschichte von der Überrumpelung durch den eigenen Tod tatsächlich an keine territorialen Besonderheiten gebunden ist. Leo und Rita am Hollywood Boulevard in Los Angeles, kurz vor Sonnenaufgang, reden erfolgreich um ihr Leben; und sei es, weil der Tod an diesem Morgen zu faul ist, eine Entscheidung zu treffen. Der Zuhörer im Rahmen, der in die von Richard begonnene Geschichte eingreift, die Geschichte weiter und zu Ende spinnt, redet dabei ebenfalls um sein Leben, nur weiß er es noch nicht – bis zum letzten Atemzug nicht. Auch in der inneren Binnengeschichte geht es um Leben und Tod.

Raffiniert, wie gesagt, der Aufbau und vor allem der Übertritt einer Binnenfigur in den Rahmen. Das ist ein beliebter Trick von Geschichtenerzählern, um in ihren Texten oder auch in Filmen dafür zu sorgen, dass die Leser oder Zuschauer Realität und Fiktion nicht mehr recht auseinander halten können. In diesem Zusammenhang sei zum Beispiel an den Film von Woody Allan „The purple rose of Kairo“ erinnert. Da sitzt die Schauspielerin Mia Farrow, die eine etwas naive Frau spielt, im Kino und verlässt den Zuschauersaal mit einer Figur, die eben nur auf der Leinwand existiert hat.   Eine Parallele dazu gibt es auch in Sunrise. Denn im Anschluss an die beiden Lebensbeichten greift der Tod aus der ersten Binnengeschichte auf den Rahmen über, stellt sich die für den Ich-Erzähler katastrophale Identität von Richard und dem Dünnen heraus, die ja von Anfang an behutsam vorausgedeutet wird.

Als was dürfen wir Köhlmeiers Erzählung lesen? Als eine Demonstration bester Erzähltechnik, als einen Hymnus auf das Erzählen, die Macht und Ohnmacht des Erzählens und seiner Zuhörer bzw. Leser. Köhlmeiers Erzählung ist durch die schon zu Beginn eingeführte Figur des Todes nicht nur eine poetisch verdichtete Darstellung der Binsenweisheit, dass wir uns vom Tod überrumpeln lassen und eine in modernem Gewand erscheinende ewig junge Variante der uralten Unsterblichkeitsphantasie des Menschen, sondern auch – und das ist das Postmoderne – eine Reflexion über das Erzählen und die Beziehung des Autors zu seinem Publikum.

Aus den Zeiten vor den Säkularisationsschüben stammen das Bild und die Vorstellung des Menschen als eines Pilgers oder Wanderers. Georg Trakl hat – freilich ohne transzendenten Bezugspunkt – dafür folgende Verse gefunden:

Wir sind die Wandrer ohne Ziele,

Die Wolken, die der Wind verweht,

Die Blumen, zitternd in Todeskühle,

Die warten, bis man sie niedermäht.

 

Eine Prosa-Variante dieser Metapher ist sicher das Bild vom Autostopper, das man hier nicht in allen Entsprechungen zergliedern muss. Wir bekommen mit ihm in einer modernen Fassung die alte, immer noch gültige Grundbedingung des menschlichen Lebens vorgestellt, eben unsere Wanderschaft zwischen Geburt und Tod. Und immer schon füllen wir diese Zeit, wenn das Leben still steht, mit Geschichtenerzählen auf. In nichtarbeitsteiligen, noch nicht redefaulen Gesellschaften wie denen des Orients tun es die Menschen heute noch, finden sich am Marktplatz zusammen, im Kaffeehaus. Die Geschichten aus 1001 Nacht sind ein Beispiel für die Literarisierung dieser Erzählleidenschaft des Menschen. Das Dekamerone in der italienischen Renaissance stellt einen anderen Rahmen her, der Anlass und Zeit hergibt für all die köstlichen Geschichten, die aus dem Rahmen gerissen und/oder in Filmen auf uns gekommen sind.

Anders als in den überkommenen Rahmenerzählungen haben wir bei Köhlmeier entsprechend den versiegten Quellen des gemeinsamen Erzählens und Zuhörens nur mehr einen ganz reduzierten, aufs Wesentliche gebrachten Erzählanlass, der mit dem Autostopper und Richard ins Bild gebracht wird. Einerseits die Begegnung des Menschen mit seinem Tod und andererseits – und das mag überraschen – das Aufeinanderprallen des Autors/Erzählers mit seinem Leser bzw. Zuhörer.

An der entscheidenden Stelle der Erzählung meint Richard, dass die Geschichte, nachdem Leo und Luna ihre Plädoyers gehalten haben, eigentlich ihr Ende hat, denn der Tod mag heute keine Entscheidung treffen. An und ab dieser Stelle beginnt zwischen dem Binnengeschichtenerzähler Richard, den der Leser ja als Tod vorausgedeutet bekommen hat, und seinem Zuhörer, eine Auseinandersetzung mit furchtbaren Folgen, in der sich dieser, wie es sich für einen emotional und intellektuell fähigen und aufgeklärten Rezipienten gehört, über die bekannten Identifikationsmechanismen immer mehr in die Geschichte hineinziehen lässt, diese fort und zu Ende spinnt, so dass der Zuhörer am Ende die Rolle des Erzählers übernommen hat. Nachdem Richard aus seinem Zuhörer, der schon in den ersten Zeilen von Sunrise als namenloses „Ich“eingeführt wird, also als Jedermann, als eine Figur, die wir bis zu ihrem Tod begleiten dürfen, endlich die Lösung für das Grundproblem herausgelockt hat, wie denn das Leben zweier fiktiver Personen vom Tod verschont werden kann, nämlich dadurch, dass eine reale Person sich einen Teil des realen Lebens für das Ersinnen einer Lösung abschneidet, merkt er nur mehr lakonisch an: „Du hast meine Geschichte zu Ende erzählt. Dazu hättest du mich nicht gebraucht.“ Was heißt das jetzt?

Dass der Autor die Aufgabe, Lösungen zu formulieren, die er sich selbst nicht mehr zutraut, an seine Leser weiter reicht? In Sunrise endet die Einmischung des Zuhörers /Lesers mit dem Verlust des Lebens. Warum? Weil die Beschäftigung mit literarischen Problemen sich mit fiktiven Problemen beschäftigen heißt? Dazu könnte passen, dass Richard / der Tod als das alter Ego des Autors Köhlmeier, bevor er tatsächlich zuschlägt, seinem Zuhörer anbietet, ja diesen geradezu drängt, die bereitstehende Mitfahrgelegenheit zu nützen, was in diesem Zusammenhang nichts anders bedeuten kann, als die Aufforderung, das Leben beim Schopf zu packen und nicht immer auf die nächste Gelegenheit zu warten. In der Diskussion der Gegenwartsliteratur über Aufgaben und Funktionen der Literatur sind solche Gedanken wie die Kontraproduktivität des Lesens – allerdings in Gemeinschaften, wo viel gelesen wird – als einer folgenlosen Flucht und Kompensation für real versagtes Leben und Medium der Libidobindung keine unbekannten.

Warum dürfen wir Richard, den Tod, als alter Ego des Autors begreifen? Autoren steht es grundsätzlich frei, ihre Sehnsüchte und Ängste auf alle erdenklichen, eben die bereit stehenden Figuren zu werfen; psychologisch gesprochen: sie auf diese zu projizieren (Prometheus, Ganymed, Sisyphos usw.). Die Identifikation mit bestimmten Figuren hat ihre individual- und sozialgeschichtlichen Gründe. Sie kommt nicht aus dem Nichts. In der Aufklärung waren es Lichtfiguren, vom Optimismus getragen, mit denen sich die Literaten aufs hohe Ross setzten. Inzwischen sind fast drei Jahrhunderte vergangen und eine hochnotpeinliche Diskussion über die Rolle der Kunst bei der Bewältigung der Probleme des Lebens hat alles von oben nach unten gekehrt. Vom alten Fortschrittsglauben ist nicht mehr viel übrig geblieben. Aus den Lichtbringern sind aus den geschilderten Gründen sogar Unheilverkünder( zB die Kassandra bei Christas Wolf) und Todbringer geworden. In der Fiktion ja schon immer: Literaten bringen Figuren zur Welt, beseitigen sie auch wieder. Auf die Realität bezogen ist die Qualifikation „Todbringer“ sicher überspitzt formuliert. Wenn man aber realisiert, dass man im Literaten auch denjenigen sehen kann, der die dem „eigentlichen Leben“ geltende Energie abzieht, dann klingt die Vorstellung vom Literaten als Todbringer vielleicht nicht mehr so fremd.

Autoren sind von Beruf Erzähler. Sie haben ihre Figuren in der Hand, auch wenn sie sich aus guten Gründen (der Glaubwürdigkeit ihres Schreibens) – heute fast immer – eine Beschränkung der Perspektive (personales Erzählen) auferlegen. Das Schicksal ihrer Figuren: Leben und Tod liegt ganz bei ihnen und ihrem Erzählplan. In Köhlmeiers Erzählung gibt es mit Richard nur eine Figur, die an Machtfülle mit einem Autor vergleichbar ist, eben den Tod.

Andererseits ist auch der Rahmen, das heißt: die mit dem Anspruch eines Wirklichkeitsberichtes auftretende Erzählung in Wirklichkeit nur Illusion, also fingiert, erzählt und alles in allem ein „literarisches Vexierbild über Chancen und Gefahren des Erzählens“ (Wolfgang Bunzel). Das zeigt sich auch noch im allerletzten Satz. Dass der Tod diesmal erfolgreich zugeschlagen hat, erzählt nämlich nicht er oder der vom Sichelwurf Getroffene; das liefe auf einen Konstruktionsfehler in der Erzähllogik hinaus. Das allerletzte Wort in diesem Text oder dramatischen Geschehen spricht eine Figur, die bisher überhaupt noch nicht in Erscheinung getreten ist. Wir dürfen sie uns als eine Figur vorstellen, mit der Köhlmeier noch einmal augenzwinkernd eine Schraube im Verwirrspiel „Realität oder Fiktion“ anzieht.

Also bleibt der Text insgesamt ein wunderschöner Spielball in den Händen von Literaturbeflissenen, welche die Verdichtungskraft eines Autors zu schätzen wissen, ohne aus ihm einen Gott zu machen. Dann werden sie von ihm auch nicht geblendet