Schulmeisterlein

(ABGEDRUCKT IM JAHRESBERICHT DES MUSISCHEN GYMNASIUM 20047/08; S.22ff)

Eine Feier für Gottlieb Trettenbreit
Aus dem vergnügten Leben eines Schulmeisters [1]

Als ich mir für die Abwicklung der Verlassenschaft meines Klienten unlängst einen Überblick über die in seinem Testament verzeichneten Vermächtnisse verschaffen musste, dabei auf den Dachboden seines Hauses gelangt war und den Deckel einer schweren, eisenbeschlagenen Holztruhe geöffnet hatte, fiel mein Blick auch auf eine verstaubte, in Leder gebundene Mappe. Obwohl von ihrer Existenz im letzten Willen des Verstorbenen, der seine großen und kleinen Besitztümer im Übrigen penibel aufgelistet hatte, nichts zu lesen war, schlug ich diese auf, da die Truhe selbst zweifellos ihm gehörte. Ich entnahm ihr drei Seiten eines mit einer zierlichen und teilweise unleserlichen Handschrift geschriebenen, überschrifts- oder titellosen Textes. Die flüchtige Lektüre ergab, dass es sich um einen, wie die Literaturwissenschaftler das ausdrücken würden, fiktionalen Prosatext handeln musste. Denn in ihm wimmelte es von erfundenen Personen – im Übrigen ohne jede Personenstandsangabe oder andere Hinweise zu ihren im Sinne des ABGB relevanten Lebensumständen, für uns Juristen Existenzen also ohne eigentliche Daseinsberechtigung – , die sich auf die Aufforderung einer vermutlich männlichen Person, auch seine Identität bleibt im Dunklen, nun zu einer geselligen Runde zusammengeschlossen haben und sich gewisse Vorfälle aus dem Leben eines Schulmannes erzählen lassen. Da ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, was es mit diesem Dokument auf sich hatte und   etwa gar der Verstorbene selbst als Urheber dieser Zeilen in Frage kam, nahm ich die Mappe, nachdem ich die im Testament verzeichneten Stücke gesichtet und mein Protokoll abgeschlossen hatte, in meine Kanzlei mit und legte sie dem ältesten Sohn der Familie als dem Universalerben vor. Dieser identifizierte die Schrift sofort als die seines Vaters und zeigte sich, nachdem er die Seiten aufmerksam studiert hatte, ziemlich überrascht. Von schriftstellerischen Versuchen oder ähnlichen musischen Ambitionen seines Vaters hatte er Zeit seines Lebens nie etwas vernommen. Er bestätigte mein Urteil – ich hatte meine grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich der Daseinsberechtigung von nicht der Wahrheit verpflichteten Sachverhaltsdarstellungen weggelassen – und ergänzte es um den Hinweis, dass es sich bei diesem Text um eine so genannte Rahmengeschichte handle. Als Germanist könne er das zweifelsfrei feststellen. Wie sein Vater als ausgebildeter Heizungstechniker und als viel beschäftigter Chef eines eigenen mittelständischen Unternehmens überhaupt Zeit gefunden habe, zur Feder zu greifen und dann noch dazu einen Ausschnitt aus dem Leben eines Lehrers, eines Vertreters eines Berufsstandes also, an dem er noch nie ein gutes Haar gelassen habe, zu einer den Schulmann in ein relativ rosiges Licht tauchenden Geschichte verdichten konnte, das könne er überhaupt nicht verstehen. Ein Lehrer im Bekannten-, gar Freundeskreis seines Vaters sei ihm jedenfalls nicht aufgefallen, so dass die Frage nach der stofflichen Herkunft dieser Geschichte wenigstens derzeit offen bleiben müsse. Freilich sei ihm aufgefallen, dass sein Vater in letzter Zeit auffallend viel Jean Paul, Adalbert Stifter und Thomas Mann gelesen habe, was erklären würde, dass sich diese Autoren, den erstgenannten Namen habe ich noch nie gehört, zumindest, was den Rahmenbau und manche Stilverschrobenheit der Schulmeistergeschichte betreffe, in der Arbeit des Vaters spiegeln. Hinsichtlich des in der so genannten Enthüllungsprosa pikanten Verhältnisses von Dichtung und Wahrheit, immerhin dürfte es sich bei dieser Geschichte trotz allem Verkleidungsaufwand um eine ganz bestimmte pädagogische Provinz handeln, wolle er jetzt keine Angaben machen, doch halte er die Qualität des Textes für ausreichend, so dass sie nach einer Veröffentlichung dem Ansehen seines Vaters in der Stadt nicht nur nicht schaden, sondern dieses sogar noch heben würde. Kurz: Er bat mich, die dafür geeigneten Schritte zu unternehmen.

Im Laufe meiner Karriere als Rechtsvertreter habe ich die sonderbarsten Klientenwünsche einer Realisation zuzuführen geholfen. Da war diese Publikation, die vielleicht Klagen nach sich ziehen würde, für die ja der Erblasser – von mir vertreten, versteht sich – gerade stehen müsste, das seltsamste Ansinnen nicht. Überdies hatte mir der Sohn für die Erledigung ein zusätzliches, großzügig bemessenes Honorar in Aussicht gestellt, so dass ich keinen Grund sah, meine Beziehungen in diesem Fall nicht spielen zu lassen.

Schon wenige Monate nach der Abwicklung der Verlassenschaft konnte ich den Auftrag erfolgreich abschließen, denn der “Club der schrägen Vögel“, dem ich den Text zusammen mit den entsprechenden Erklärungen zugeschickt hatte, hat ihn, nachdem die parteiabhängigen Lehrer-Journale abgewunken hatten, zu meiner Überraschung in seiner Vierteljahresschrift “gaudium et spes“ tatsächlich abgedruckt. Für einen allfälligen Titel der Geschichte überließ ich der Redaktion freie Hand. Die Zeitschrift dankte mir bzw. dem Erben für diese fabelhafte Geschichte, in der auf hervorragende Weise, nämlich mehrfach gebrochen, das Los von tüchtigen Bergsteigern in einer Wüste dargestellt werde. Beeindruckt von dem mir ausgedrückten Dank und in meiner Freude über die nun auf die Wege gebrachte Drucklegung habe ich dem bizarren Vergleich, worin nach dem Urteil des Clubs die Quintessenz des Textes bestehen sollte, damals keine Beachtung geschenkt. Die Redakteure hofften, dass der Erbe mit dem von ihnen gewählten Titel, der – wenn auch mit einer gewissen einschränkenden Abweichung – eine Anspielung auf einen großen Dichter der deutschen Sprache enthalte, einverstanden sei, zumal sich dieser aus dem Text fast aufdränge. Als Beilage des Schreibens legten sie mir einen Sonderdruck bei, von dem ich eine Kopie in meiner Kanzlei aufgehängt habe. Der besagte Text (jetzt mit dem vollen Namen des Autors, aber ohne Titel, da ich diesen schon zu Beginn meiner Ausführungen bekannt gemacht habe und dieser ja auch, was nicht auszuschließen ist, möglicherweise gar nicht der Absicht meines früheren Klienten entspricht – für die Richtigkeit der Transkription hat sich der Sohn verbürgt)   lautet im Original wie folgt:

„Jetzt aber, meine Freunde, denn heute bin ich an der Reihe, rückt die Stühle näher heran, macht es euch bequem, lockert die Krawatten, der Burgunder in der Karaffe kitzelt bereits in der Nase, du Edgar, der du das Zitieren von Weistümern und die Wurzelbehandlung von Wörtern für die einzigen feuerbeständigen Freuden des Lebens hältst, setz dich ganz nah zu mir, auf den Arm des Großvatersessels da, in dem ich jetzt Platz nehme, leg vielleicht noch die Weste um die Lehne und die Ohren an, ach Martha, zieh bitte noch die Vorhänge zu, denn die Welt da draußen muss euch jetzt nicht kümmern. Ich werde euch eine Episode aus dem wirklichen und tätigen Leben eines braven und fleißigen Mannes erzählen, mit dem ich seit frühen Kindertagen Umgang habe, der sich während des Studiums dann zu einer Freundschaft verdichtete, so dass ich mit Recht behaupten kann, dass ihn wahrscheinlich niemand besser kennt als ich. Er warf sich damals in die Arme der Philosophie und ich verfiel dem Zauber der Literatur. Da es zwischen beiden fließende Übergänge gibt und uns die Begeisterung für nektarreiche Texte verband, konnte es nicht ausbleiben, dass wir Nächte lang gemeinsam zur Blütenlese ausschwärmten und mit hochroten Köpfen Exegese trieben. Nietzsches Essay über die Rolle von Apoll und Dionysos in der Kunst zum Beispiel war so ein Fall. Die Tragödie, so griff er die Behauptung des berühmten Weimaraners auf, ist nicht nur aus dem Geiste der Musik geboren worden. Die Gefahr, so wendete er die Hypothese ins Apokalyptische, ist nicht gering, dass sie sich in diesem auch vollendet. In der zu einer Streitschrift erweiterten Abhandlung verwertete er auch die Erkenntnisse aus der Entzifferung eines von ihm in der Herzogin Amalia-Bibliothek entdeckten Palimpsesttitelblattes des philosophischen Essays, das dem Herausgeber der Gesammelten Werke entgangen war, und errang mit ihr den in Spötterkreisen begehrten Ehrentiteltitel des schrägsten Extrapolenters. Das Palimpsest war unmittelbar darauf beim Brand der Bibliothek leider vernichtet worden, so dass der Entdecker keinen weiteren wissenschaftlichen Gewinn daraus ziehen konnte. Auch das Erfinden von Sentenzen aus dem vorgeblich klassischen Zitatenschatz, womit er manchen Texteinstieg schmückte, war eine seiner Spezialitäten. Aber ich merke schon, ich schweife ab. Jedenfalls habe ich die Geschichte, die ich euch jetzt erzähle, aus Informationen zusammengebaut, die ich von meinem Freund selbst im Laufe der Jahre erhalten habe. Das Erzählen, so vermute ich auf Grund meiner Anteilnahme mit dem Schicksal von Gottlieb Trettenbreit, denn genau um diesen handelt es sich, und auch der Wertschätzung für seine später entfaltete Prosa, von der ich im kleinen Kreis, zu dem auch ich zählte, Kostproben zu ziehen die Ehre hatte, wird mir vermutlich eher nach verwickelter Schreibe denn der nach dem einfachen Nacheinander verlangenden Rede geraten, wofür ich jetzt schon um Nachsicht und nichtsdestotrotz um besondere Aufmerksamkeit für diese Lichtgestalt bitte, die nun seit fast drei Jahrzehnten unserem kakanischen Gemeinwesen, seinen Gesetzen im Allgemeinen und den Schulgesetzen im Besonderen treu ergeben dafür gesorgt hat, dass die ihm anvertrauten Zöglinge in diesen Dekaden der Wohltaten teilhaftig werden, die ihnen beim Eintritt in die Anstalt in der auf Büttenpapier gedruckten und den Eltern ausgehändigten Broschüre vollmundig versprochen werden. Wie kaum ein anderer hatte er sich bei der Qualitätssicherung, Fortentwicklung und Anpassung der Lehranstalt an die sich wandelnden Zeitumstände hervorgetan, einer Lehranstalt im Übrigen, die zu den schönsten Hoffnungen in der ganzen pädagogischen Provinz berechtigte. Wie hatte er um die Bestimmung und Erfassung von Lehrzielen gerungen und sie dann in eine dem klassischen Latein nicht unähnliche, allerdings den Anforderungen der Juristen angepasste Sprache gegossen, prosaisch ausgedrückt: Lehrpläne formuliert, für das Zusammenleben der Schüler hilfreiche Einrichtungen wie die Klassensprecherstunden ins Leben gerufen, dafür gesorgt, dass nun auch ein Schulpsychologe sich um das seelische Befinden der Kleinen und Großen kümmert, ein mächtiges Archiv von Lehrmitteln und Unterrichtsbehelfen angelegt, dessen sich seine Kollegen eifrig und dankbar bedienen, für diese ein paar finanziell nicht unbedeutende Gegenleistungen für pädagogische Zusatzleistungen herausgeschlagen, hatte in einem Aufsatz über die Entstehungsgeschichte seiner Schule diese aus den phantastischen Höhen der Sagenkunde wieder auf den Boden der nüchternen Geschichtswissenschaft heruntergeholt, hatte für die Fortbildung seiner Fachkollegen eine um die andere Veranstaltung auf die Beine gestellt, die in ganz Kakanien Beachtung fanden, hatte jahrelang die Arbeitsgemeinschaft seiner Fachkollegen geleitet, sein Wissen an junge Lehrer bei Lehrveranstaltungen auf der Universität weitergegeben, sich selbst selbständig und unermüdlich in einem Ausmaß fortgebildet, das dem Finanzamt wegen der in Anspruch genommenen erhöhten Werbekostenpauschale schön langsam verdächtig erschien, denn ein solches Ausmaß des pädagogisch-didaktischen Eiferns stieß bei den ärmelschonerbewehrten Finanzern bald an die Grenzen der Glaubwürdigkeit, war , an den Schläfen schon etwas ergraut, im Herzen jung geblieben, was er mit dem Hinweis auf die sich ständig erneuernde Schülerschaft und deren Ausstrahlung auf ihn als segensreiche Nebeneffekte seines pädagogischen Wirkens und nicht als einen von ihm, weil genetisch bedingt, nicht zu verantwortenden Charakterzug hinzustellen pflegte, kurz: dieser brave Mann war in die Jahre gekommen und in eine Phase der Nachdenklichkeit eingetreten.

An einem Freitag nun nach Unterrichtsende – die Verwendung des Wortes Dienstschluss wäre aus nahe liegenden Gründen wirklich fehl am Platz, denn Gottlieb befand sich zu jeder Zeit, also auch nach der letzten Schulstunde des Tages, selbstverständlich auch nächtens oder im Urlaub im Dienst – war er forsch an seinen Vorgesetzten herangetreten. Er jage und eifere nun wirklich lange genug den Idealen dieser Anstalt nach und einige Ziele seien dank seiner unermüdlichen Bemühungen und seines Wirkens auch schon erreicht worden. Nicht dass er sich solch faustisches Betragen eines höherrangigen materiellen Zieles wegen zugelegt habe, nein, immer habe er sich nur vom Flügelross hinauf zu den Sternen tragen lassen, ohne auch nur einen Gedanken an die für eine solche himmelwärts strebende Reise erforderliche Ausrüstung und Verpflegung zu verschwenden, jetzt aber – und er verwies auf die Kälte starrende und dünne Luft dort oben – jetzt bedürfe er wenigstens einmal der wärmenden Erdung, zumindest einer kleinen Ermunterung, damit er seine der Wohlfahrt aller dienende Mission gestärkt fortsetzen könne. Er wolle also nicht lange um den heißen Brei herumreden und sofort zur Sache kommen. Er müsse Klage führen darüber, dass ihm – und im Übrigen nicht nur ihm, aber das ist eine andere Geschichte – die gebührende Anerkennung seiner Verdienste um das Wohl seiner Schülerschaft und der Schule bisher versagt geblieben sei. Sprach`s und ließ den verdutzten Anstaltsleiter, der in dem Kollegen bisher nur einen erlebt hatte, der sich zu jedem Auftrag breit schlagen ließ, aber auch wirklich zu jeder Mission in die gefährlichen Weiten des Ozeans mit seinen Untiefen und Stürmen auf der Suche nach Utopia hinausgesegelt war, vorerst ratlos zurück. Nach etlichen Tagen der Verstörung kam der rettende Einfall von oben über ihn und der Anstaltsleiter beantragte, wovon er Gottlieb in einem Tonfall, der einen leichten Anflug von Pathos und gönnerhafter Rührung erkennen ließ, alsogleich Mitteilung machte, in einem tief schürfenden und weit ausholenden Dienstschreiben an die vorgesetzte Behörde für Kollegen Trettenbreit die Verleihung des Titels Oberstudienrat. Zu seiner Verblüffung ließ man ihn noch ein Papier unterschreiben, in dem er sich verpflichtete, den in Aussicht gestellten Titel, sofern man ihm diesen zuerkennen würde, auch tatsächlich anzunehmen, eine Prozedur, über deren Berechtigung ihm erst später im Zusammenhang mit der Assoziation zu einem eidgenössischen Dramatiker ein Licht aufging. In der obersten Komturei für die Einhaltung der aus den Werten des Guten, Wahren, Schönen folgenden Verpflichtungen des Lehrpersonals und der rechten Moral bei ihrem pädagogischen Wirken aber waltete ein keuscher Ritter seines Amtes und der Antrag des Direktors verschwand vorerst in einem kühlen Aktengrab. Nach dem Durchzug einer mehrere Jahre währenden winterlichen Kaltfront mit ganz unheiligen Graupelschauern begannen aber – die Wege des Herrn sind unergründlich – die ins Stocken geratenen Mühlen Kakaniens doch wieder zu mahlen und Gottlieb, der in der Zwischenzeit in gewohnter Weise seinen Pflichten und nautischen Manövern nachgekommen war, wurde in die Amtsräume der über alle Schulen des Landes wachenden Obrigkeit bestellt. Man überreichte ihm das vom obersten Repräsentanten der kakanischen Republik eigenhändig unterschriebene Dekret. Eine kleine, bisher nicht geöffnete Flasche eines burgenländischen Weines der Sorte Blaufränkisch wurde entkorkt und auf das Wohl des eben zum Oberstudienrat avancierten Pädagogen angestoßen. Gottlieb erwartete nun eine schmissige Laudatio. Diese fiel aus ihm vorerst nicht einsichtigen Gründen ziemlich knapp aus. Und sie endete, noch ehe sie richtig begonnen hatte, mit der ihn verblüffenden Verlesung einer unumstößlich wahren Tatsache aus der Zeit seines Karrierebeginns, die dem Präsidenten wohl von einem Adjunkten noch rechtzeitig auf einem Spickzettel zugesteckt worden war, nämlich, dass der Jubilar sein Studium in Salzburg begonnen und dort auch erfolgreich beendet habe. Wohl möglich, dass dem Präsidenten die an sich nicht eben kurze Liste der Trettenbreitschen Meriten entweder überhaupt nicht zur Verfügung stand, weil diese in den Archiven der Behörde verloren gegangen oder während der Augenblicke der feierlichen Verkündigung der präsidentialen Aufregung zum Opfer gefallen, also zum Beispiel verrutscht war. Den aufkeimenden Unmut über den zwar reinsortigen, aber nicht eben gehaltvollen Blaufränkischen besänftigte Trettenbreit mit der Anerkennung für die für den Feierakt investierten Riedelgläser, in denen er von der Präsidentensekretärin im großzügig geschnittenen Dirndlkleid als Kostprobe gereicht wurde. Das würdelose Verschweigen der Leistungen aber, deretwegen seine Erhebung in den Stand des Oberstudienrates ja veranlasst worden war, grämte ihn. Bald aber war er wieder obenauf und wusste mit dem Schweizer Dramatiker Dürrenmatt diese schlimmst-mögliche Wendung, welche das Spektakel genommen hatte, als die Form des Theaters schlechthin einzuordnen, in der   die Machtverhältnisse einer Gesellschaft, in der das Individuum machtlos und ein allgemein verbindlicher Wertekanon nicht mehr gegeben sind, durchschaubar und darstellbar werden, nämlich als Komödie. Von einem anderen zu solchem Mitspielen Verpflichteten sollte er später einmal erfahren, dass der Laudator bei seiner Lobrede noch weiter in die Tiefen der Zeit vordrang und außer den Studiendaten sogar die Auszeichnung des damals Achtzehnjährigen im Reifeprüfungszeugnis wieder ans Tageslicht brachte und in diesem Zusammenhang für erwähnenswert hielt, die beruflichen Verdienste des neuen Oberstudienrates aber ebenso glatt überging wie bei Gottlieb.

Die Verleihung des Titels war nicht unentdeckt geblieben und als Gottlieb Trettenbreit die Anstalt im Glanze der   neuen Würde und in der Erwartung betrat, sein ihm bestimmtes Schicksal nun leichter meistern zu können, schlug ihm von Seiten der Seeleute, die bei ihren Unternehmungen vorzeitig Schiffbruch erlitten hatten und statt in Utopia im Stillen Ozean vor Anker gegangen waren, auch schon bald hämischer Spott entgegen. Auch musste der auf diese Weise Ehrenbehängte bald feststellen, dass der Umfang der pädagogischen Pflichten nicht ab-, sondern eher zugenommen hatte und die Seeleute von den Sonneninseln nicht vergaßen, ihn immer wieder an das gleich gebliebene materielle Äquivalent für seine doch wirklich unvergleichbar guten Dienste zu erinnern.

Unfähig, angesichts des nun wieder aufgebrochenen Zwiespalts eine gesunde Entscheidung zu treffen, – und damit komme ich schon zum Höhepunkt meiner kleinen Geschichte – hetzte Gottlieb Trettenbreit als Gefangener seiner Ideale seither weiter wie ein Jaghund oder besser noch wie der bekannte Steinwälzer der Antike denselben, aber ständig strenger definierten Zielen hinterher. Das Dekret übrigens legte er auf die letzte   Seite des mehrfach mit roten Unterstreichungen versehenen Essays von Albert Camus, die Abhandlung auf der gegenüberliegenden Seite trägt den Titel “Das Absurde und der Selbstmord”, und fügte dem bemerkenswerten Fazit des französischen Existenzialisten, das er sich wie vieles andere auch in diesem Text rot angestrichen hatte, wonach wir uns Sisyphos als einen ohnmächtigen, aber glücklichen Menschen vorstellen müssen, einen neuen Schlusssatz hinzu: „Denn glücklicherweise haben die Götter vergessen, die Dauer der Pausen und die Zahl der Intervalle festzulegen, in denen sich Sisyphos von seiner sinnlosen Arbeit erholen kann.“

Über den weiteren Verlauf seines Lebens kann ich euch nichts Bestimmtes mehr berichten, denn ich habe ihn inzwischen aus den Augen verloren. Das ist irgendwie schade, denn eine Zeitlang habe ich mir, wie ihr meiner etwas verschrobenen und vermutlich von seiner Prosa infizierten Ausdrucksweise entnommen haben werdet, das Schicksal dieses Schulmeisters recht ans Herz gehen lassen. Ja, ich gestehe es gerne ein: Bisweilen habe ich ihm sogar nachgeeifert. Ich beende meine Erzählung an dieser Stelle, nicht ohne euch noch Mitteilung davon zu machen, dass mir zwar der von Gottlieb nachgeschobene Glücksgrund im Hinblick auf die Arbeitszeit des Lehrerstandes einleuchtet, ich aber seither immer noch darüber grüble, warum er dem Franzosen die Bezugnahme auf die Ohnmacht des Steinwälzers und diese verrückte Koppelung mit dem Glück durchgehen hat lassen. Er muss doch gewusst haben, dass Camus kein Staatsdiener gewesen ist.“

An trüben Tagen schweift mein Blick, angewidert von der Routine meiner bisweilen wirklich grauen Arbeit, durch meine Kanzlei und bleibt an dem in einem edlen Rahmen steckenden Schreiben der Zeitschrift hängen, womit mir diese für den Abdruck dieses Dokumentes gedankt hat. Dann sinniere ich ein bisschen vor mich hin und bin in Gedanken oft bei dem berühmten Steinwälzer. Natürlich habe ich Camus nachgelesen. Schließlich musste ich doch am Original nachprüfen, ob das Zitat des Schulmanns und die behauptete Auslassung der Götter hinsichtlich der Normarbeitszeit der Wahrheit entsprechen. Dazu habe ich meine Recherchen sogar auf die Aktenbestände der Antike ausdehnen müssen. Es hätte ja sein können, dass der Franzose bei der Wiedergabe des Mythos nach den antiken Quellen seinerseits etwas unterschlagen oder dazugemogelt hat. Die vom Schulmann als Glücksquelle für Sisyphos behauptete Aussparung von Verfügungen über Arbeitspausen   zeigen die antiken Dokumente tatsächlich. Das hat Camus doch tatsächlich übersehen. Alles, was ihm dazu eingefallen ist, war anzumerken, dass ihn der Steinwälzer in der Phase interessiert, da er vom Gipfel wieder ins Tal hinuntersteigt, womit er, aber das nur implizit, einräumt, dass es sich dabei um arbeitsfreie Zeit handelt. Ob sich andererseits der Schulmann an den übermenschlichen Kräften begeistert hat, welche die Götter Sisyphos attestieren, wenn sie ihm anschaffen, einen Felsbrocken (!) auf einen Berggipfel (!) zu wälzen, kann ich leider nicht nachverfolgen, da der Erzähler nur von roten Unterstreichungen spricht, die Trettenbreit bei der Lektüre von Camus vorgenommen hat und mir diese nicht zur Verfügung stehen. Bei Berücksichtigung seiner Laufbahn halte ich eine solche Reaktion aber für nicht unwahrscheinlich. Und wenn ich schon beim Räsonnieren bin: Den Planungsfehler der Götter hinter ihrer Himmelpforte muss ich auch noch mit der Feststellung eines weiteren Missstands verknüpfen, auf den aufmerksam zu machen weder Herren Camus noch Herrn Trettenbreit, beides sind ja keine Juristen, eingefallen ist. Wie soll denn bitte die Erbringung der Arbeitsleistung garantiert sein, wenn diese unbegabten Logistiker keine geschulten Aufsichtsorgane bestimmen, die an Ort und Stelle die Arbeit kontrollieren oder von denen sie sich zumindest von Zeit zu Zeit die   Produktqualität rapportieren lassen könnten. Ich kann mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, wenn mir zu dieser schlampigen Organisation die Bergsteiger vom “Club der schrägen Vögel“ einfallen, die in einer Wüste ohne Erhebungen nach Gipfeln Ausschau halten, ein Bild übrigens, das irgendwie dazupasst, ich weiß nur noch nicht genau wie, und von dem auch ich mich seltsam angezogen fühle. Meine Sekretärin raunt dann den jungen Konzipienten zu, dass der Alte jetzt wieder eine seiner Schmunzelanwandlungen hat, mit der er die Routine seiner bisweilen wirklich grauen Arbeit in ein milderes Licht taucht. Unruhe und Unmut glätten sich dann allmählich, und dann bin auch immer wieder einmal stolz, dass ich als Jurist zur   – wenn auch nur posthumen –   Veröffentlichung eines fiktionalen Textes beitragen durfte, was sonst nicht zu meinen Amtsgeschäften gehört. Ach ja, fast hätte ich es vergessen: Vor ein paar Wochen hat mir eine an mich adressierte Ansichtskarte von den Osterinseln – der Poststempel zeigt als Datum den 31. Oktober – einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Auf der Vorderseite starren mich etliche geheimnisvolle Köpfe aus Stein an. Sie wissen genau so wenig wie ich eine Antwort auf die Frage, die vermutlich den Kern der Mitteilung gebildet hat, die aber, weil mehrere Buchstaben verwischt worden sind, ihren entscheidenden Bezugspunkt verloren hat. Nur durch die Beiziehung eines Schriftsachverständigen ist es mir gelungen, einen Teil zu rekonstruieren. Außer den mir zugedachten “lieben Urlaubsgrüßen“ und sonstigen konventionellen Floskeln haben wir nur mehr drei Wörter identifizieren können, die sich vermutlich zu dem in lateinischer Sprache gehaltenen, aber leider nicht mehr vollständigen Interrogativsatzfragment „quo vadis, . . . . ?“ zusammenstellen lassen. Seither rätsle ich über den Sinn bzw. die richtige Fortsetzung der Frage. Die eigene Person wird der Absender mit der Frage wohl nicht gemeint haben, das wäre denn doch eine höchst seltsame Selbstbezogenheit. Wenn man die Größe der Schrift und den von ihr in Anspruch genommenen Platz ins Kalkül zieht, müssten es so an die achtzehn Buchstaben sein, die zu ergänzen wären. Unterzeichnet ist die Karte übrigens mit Gottlieb. Ein Familienname fehlt. Ich kenne keine lebende Person mit diesem Vornamen. Einen Zusammenhang mit der niedlichen Geschichte von meinem Schulmeisterlein, der sich, wie ich freimütig gestehe, sofort einstellte, habe ich sofort – über mich selbst verärgert – verworfen. Natürlich kann eine erfundene Figur einer realen Person, noch dazu mir, einem Sachwalter der realen Welt und ihrer Gesetze schlechthin, auf postalischem Wege nichts zukommen lassen. Ob mir da der Sohn meines früheren Klienten einen Streich gespielt hat, weil er damals gespürt hat, dass ich Texte, in denen erfundene Personen und Sachverhalte   unsere Aufmerksamkeit von der Wahrnehmung existenzieller Aufgaben und Pflichten abziehen, nicht ganz ernst nehmen kann? Ich habe auch schon versucht, ihn zu erreichen. Aber zurzeit ist er wie vom Erdboden verschluckt.

 


 

[1] In diesem Prosatext werden Vorgänge durch poetische Verkleidung ein bisschen verfremdet, wie sie an jeder österreichischen höheren Schule als bekannt vorausgesetzt werden können, aber auch solche, die für die Schulaufsicht typisch sind, wenn ihre hohen Ehrenträger sich anschicken die Leistungen der Pädagogen zu würdigen.