Das Ideal einer musischen Persönlichkeit

Zur Bildungszielphilosophie des Humanistischen Gymnasiums und zum Ideal einer voll entwickelten musischen Persönlichkeit

Kapitel 6 aus dem Aufsatz >Zur Brauchbarkeit der Prolegomena von Bernhard Baumgartner<.

(ABGEDRUCKT IM JAHRESBERICHT DES MUSISCHEN GYMNASIUM 1996/97)

 

Unsere Schule verdankt ihre Existenz einer Reihe von ehemaligen Kollegen, die ihre pädagogischen Träume mit Hilfe fähiger und einsichtiger Schulpolitiker des Landes und des Bundes verwirklichen konnten. Bewährt hat sich diese Schule durch die Leistungs- und Veränderungsbereitschaft unseres Lehrkörpers, durch sein didaktisches Geschick und die Fähigkeit, das Seine zu einer lebenswerten Schule beizutragen.

Wenn jetzt eine Strukturreform ansteht, sind wieder einmal initiative und innovative Kolleginnen und Kollegen und auch Schüler und Eltern aufgerufen, möglicherweise divergierende Interessen zu einem vernünftigen Ausgleich zu bringen. Die Rückbesinnung und Berufung auf einen Mythos, einen falschen noch dazu, wäre dabei ein regressives Element in einem Prozess zunehmend basisdemokratischer Entfaltung.

Ich kann mir gut vorstellen, dass wir bei unserer Profildiskussion auch beim humanistischen Bildungsbegriff selbst ansetzen. Zum Beispiel könnten wir einmal darüber nachdenken, ob aus einer an einem humanistisch-musischen Gymnasium angeblich angebotenen „Gesamtschau über das Große, Gewordene im Menschen und in der Gesellschaft“ wirklich bereits ein „höheres Menschentum“ (so Paumgartner) folgt. Ich tue mir schwer, das nicht für eine Sünde wider den Heiligen Geist oder eine typisch bildungsbürgerliche Anmaßung zu halten.

Die bildende und humanisierende Wirkung der antiken Schriften hat sich, wie die Zivilisationsgeschichte gerade am Beispiel ihrer humanistisch gebildeten Führungskräfte, von den Päpsten über die Mediceer-Fürsten, den weltlichen und geistlich Verantwortlichen für Inquisitions-und Hexenprozesse, den Organisatoren des Sklavenhandels (Athen und Rom darin ein großes Vorbild) und der brutalen Ausbeutung in der Neuen Welt bis zu den humanistisch gebildeten Nazi-Schergen, zeigt, wenigstens an diesen Vertretern als Illusion herausgestellt.

Die hinter der angeblich bildenden und humanisierenden Wirkung der antiken Schriften stehende Moraltheorie hat ein ehrwürdiges Alter und reicht bis in die griechische Antike zurück. Sie ist bekannt geworden unter dem Namen des ethischen Intellektualismus und behauptet einen notwendigen Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau eines Menschen und der moralischen Güte seiner Handlungen. Für den Pädagogen folgte aus dieser Position die Anweisung, den jungen Menschen mit den in einer Gesellschaft als vorbildlich angesehenen Verhaltensweisen, also den in der Literatur festgehaltenen Exempla und einigem damit in Zusammenhang stehenden Moralwissen zu konfrontieren. Wenn man sich nicht auf den Standpunkt einer mit dem Christentum aufgekommenen Gesinnungsethik stellt, wonach für die moralische Beurteilung des (prinzipiell sündhaften) Menschen nicht seine Taten, sondern seine Gesinnung heranzuziehen ist, womit bekanntlich die größten Verbrechen gerechtfertigt worden sind, genügt demnach für die Bewährung eines Charakters in Konfliktfällen weder die Information noch die Gesinnung; und dies besonders in Situationen, in denen massenpsychologisch oder sonst wirksamer Druck (experimenteller Nachweis für die grundsätzliche Korrumpierbarkeit des Menschen in den berühmten Milgram-Experimenten) die sittliche Autonomie des Individuums in Frage stellt.

Erziehungswissenschaft und Psychologie wissen heute über die Vermittlungsvariablen und ihr kompliziertes Zusammenspiel bei der Verfestigung eines Charakters und seine Bewährung besser Bescheid als die Denker vor über zweitausend Jahren. Daher sollten wir uns mit der aus der Geschichte des humanistischen Gymnasiums vertrauten Tradition der bloßen Lektüre antiken Bildungsgutes nicht mehr begnügen, sondern unsere Schüler so erziehen, dass sie von der Sittlichkeit nicht nur etwas wissen, sondern auch danach handeln. Im Schülerleben innerhalb und außerhalb der Schule nach einer argumentierbaren Moral handeln, demokratiepolitisch sinnvolle Aktivitäten setzen als Einübung für späteres staatsbürgerliches Handeln will aber genauso unterrichtet und gelernt werden und erfordert mindestens denselben pädagogisch-didaktischen Einsatz wie die Vermittlung kognitiver Bildungsinhalte. Ich vermute, dass der von uns Lehrern nicht mitunterrichtete Transfer von der Theorie in die Praxis auch ein Grund für die Politikverdrossenheit unserer Jugend ist.

Der bisher ausgebliebene Transfer von der Theorie in die Praxis hat auch sozial- und bildungsgeschichtliche Ursachen, die mit dem Stand der Gelehrten und der Lehrer selbst zu tun haben. Die Bildungsphilosophie des humanistischen Gymnasiums in seiner Fassung durch den Neuhumanismus ist in einer Phase der deutschen Reichsgeschichte formuliert worden, als die Verwirklichung der Träume einer Verfassung, welche die Garantie der Menschenrechte enthielt oder gar Mitwirkungsrechte der Bürger an der politischen Willensbildung enthalten sollte, in weite Ferne gerückt war; ganz abgesehen davon, dass die Formulierer dieses Bildungsideals nicht das gesamte Volk, sondern nur qualifizierte Minderheiten an den eventuell erkämpften Rechten partizipieren lassen wollten. Die Vorstellung nun von der Entfaltung aller Persönlichkeitskräfte in der Begegnung mit der Antike (Wilhelm von Humboldt), die sich dann aber doch nur im Medium der Kunst frei äußern durften bzw. auf dieses eingeschränkt waren, deckten sich mit den Überlegungen der Klassik, insbesondere denen Schillers, der in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ in der Kunst ein vom Zugriff des Staates noch nicht korrumpiertes Betätigungsfeld für den Staatsbürger gefunden hatte. Beiden für die Bildungsphilosophie des humanistischen Gymnasiums bestimmenden Einflussgrößen ist die um die politische Handlungskomponente gekappte Beschränkung auf das Kulturell-Private gemeinsam; unter den damals herrschenden Umständen ein vermutlich weiser Schritt. Und noch ein retardierendes Element in der Verfestigung eines solchen eher kontemplativen Bildungsbegriffes lässt sich feststellen. Da die Absolventen eines humanistischen Gymnasiums sich durch den bis zur Jahrhundertwende auf ihre Kreise beschränkten Hochschulzugang die Reproduktion ihrer beruflichen Privilegien und sich als Eliten im Umfeld von Alleinherrschern   seit der Renaissance einen gewissen Einfluss sichern konnten, fehlte insgesamt gesehen ein Motiv, dem Bildungsbegriff eine mehr handlungsorientierte Färbung zu geben. Ein trotz der politischen Ohnmacht mehr oder weniger maßgeblicher Einfluss auf das öffentliche Geschehen seit der Renaissance bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Absolventen der Realschule und des Realgymnasiums mit denen des humanistischen Gymnasiums gleichgestellt wurden, dürfte meines Erachtens mit ein Grund gewesen sein für einen derart kastrierten Bildungsbegriff der Gelehrten und Schulmänner, die nicht erst seit heute an führender Stelle an der Normierung der Bildungsbegriffe mitarbeiten.

Diese Situation änderte sich mit den politischen und sozialen Umwälzungen nach dem 1. Weltkrieg bzw. der Errichtung demokratischer Republiken im Deutschen Reich und in Österreich vorerst nicht. Ihre späte Einführung, mangelnde Erfahrung, wie ein Volk von jahrhundertelang im Gehorsam gegen Kirche und Krone geübten Untertanen zu einem demokratisch legitimierten und verantworteten Verhalten bewegt werden kann, und das Nachwirken der alten Bildungstradition sind wohl die Gründe für die nur langsam reifende Erkenntnis, dass für das Funktionieren einer Demokratie als der dem derzeitigen Entwicklungsstand des Kapitalismus entsprechenden Staatsform Aktivbürger erforderlich sind, ohne die Demokratie bloße Fassade bleibt oder wieder in die Hände von weniger demokratisch legitimierten Eliten fällt. Spätestens aber im Schulgesetzwerk 1962 ist das Vertrauen auf das Funktionieren des Humboldtschen Bildungsideals nicht mehr wirksam, wonach die charakterliche und soziale Erziehung des Schülers gleichsam von selbst aus der ernsthaften Befassung mit den Bildungsgütern und der Entwicklung formaler Fähigkeiten folgt. Ein aus der Aufgabenbestimmung für die österreichische Schule ablesbares deutlich handlungsorientiertes Bildungsziel ist an seine Stelle getreten. Kurz und allgemein formuliert ist das Ziel gemäß § 2 SchOG jetzt die Entwicklung des Schülers zu einer durch einen Katalog von Tugenden und Bürgertugenden bestimmten und in das Gemeinschaftsleben eingebundenen Persönlichkeit, die – konkret weiter formuliert – fähig sein soll, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken. Anders als in vordemokratischer Zeit genügt dem Gesetzgeber in einer Demokratie, deren Funktionieren von der Teilnahme ihrer Bürger am Prozess der Willensbildung (nicht nur bei Wahlen) abhängig ist, eine auf das Private beschränkte Allgemeinbildung (im Gynasium: höhere Allgemeinbildung) nicht mehr. Dreieinhalb Jahrzehnte später liegen und lägen mit der Verrechtlichung von Teilbereichen des Schullebens (da, wo es um die Zuteilung von Lebenschancen geht) und der Verankerung der Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte von Schülern und Eltern alle institutionellen Voraussetzungen vor, ein bestimmtes Bildungsniveau nicht schon mit einem bestimmten Wissensstand erreicht zu sehen, sondern vom Nachweis demokratiepolitisch wünschenswerter Handlungskompetenzen abhängig zu machen; also in der Schule auch einen Raum zu sehen, innerhalb dessen staatsbürgerliches Verhalten im weitesten Sinn als Vorstufe für späteres verantwortliches Handeln in Beruf, Ehe, Partnerschaft, Familie, Kirche, Verein, Partei und im Staatsleben eingeübt werden kann und auch eingeübt werden soll. Natürlich hat dieser vom einfachen Gesetzgeber der Schule übertragene Auftrag seine Grenze in der verfassungsrechtlich garantierten Autonomie des Schülers, von der Befähigung zu staatsbürgerlich relevantem Handeln auch nicht Gebrauch zu machen. Die Schule ist mit anderen Worten verpflichtet, dem Schüler Vorbilder und die Befähigung zu öffentlich wirksamem Handeln zu geben, darf aber nur Nachfolge auf Grund frei gebildeter Überzeugung ermöglichen und erleichtern wollen.[1]

Auch zum Preis von Unannehmlichkeiten – und diese werden nicht ausbleiben, wenn Schüler ihre Rolle als bloße Bildungsempfänger ablegen und ihre Pflichten und Rechte als Staatsbürger im Arbeits- und Lebensraum Schule im Sinne des § 2 SchOG und der Normen des Schulunterrichtsgesetzes wahrzunehmen lernen – sollten wir ganz allgemein, und ohne schon auf den verschiedenen Beitrag der Fächer bei der Zielverwirklichung einzugehen, unsere pädagogisch-didaktischen Fähigkeiten bei Klarstellung der verfassungsrechtlich gezogenen Grenzen politischen Handelns dafür einsetzen, den Schülern schon in der Schule die Handlungskompetenzen zu geben, die sie später zur Aufrechterhaltung einer lebendigen Demokratie benötigen. Ich fürchte, dass eine aus einem liberalistischen Grundrechtsverständnis folgende Haltung „Schule informiert – handeln muss der Schüler später selber“- in eine demokratiepolitisch wenig wünschenswerte Sackgasse geführt hat. Und wenn das, was das humanistische Gymnasium letztlich anstrebt, nämlich Humanität, kein bloßes Wort bleiben soll, also an einem Bildungsbegriff festhält, der zu nichts verpflichtet, muss neben die anzustrebende Gesamtschau auch die Befähigung zur Verwirklichung in ihr enthaltener großer Menschheitsträume durch den Zugewinn von Handlungskompetenz treten.

Das Humanistische Gymnasium mit seiner musischen Akzentuierung durch die Bildungsphilosophie des Neuhumanismus hat sich seit seinen Anfängen der vollen Entfaltung der Persönlichkeit verpflichtet ( einem auch heute gültigen Bildungsziel), dieser aber auf Grund des politischen Rahmens zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur das schmale Betätigungsfeld der Kunst anbieten können. Diese bis ins 20. Jahrhundert andauernde Beschränkung hatte zur Folge, dass der Begriff der musisch-humanistischen Bildung mit der Vorstellung des Nur-Privaten aufgeladen wurde. Diese Verknüpfung ist durch die Tatsache noch verstärkt worden, dass das Musische ja in der Privatheit seinen Ausgang nimmt und dort seinen unbestrittenen Selbstwert für ein erfülltes Leben hat. Noch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich im Zusammenhang mit der Industrialisierung die musische Akzentuierung des Humanistischen Gymnasiums zu verflüchtigen und löste sich schließlich überhaupt auf. Die vielfältigen Reformbewegungen seit der Jahrhundertwende haben auf die tatsächliche oder befürchtete Beschneidung der „voll entfalteten Persönlichkeit“ reagiert und sich der Reintegration des Musischen in die Erziehung verschrieben. Aber auch sie haben sich den musischen Menschen nur als einen in seiner Privatsphäre tätigen Menschen vorstellen können und die politische Dimension der musischen Erziehung und Bildung ausgeklammert. Auch nach ihrem Verständnis war eine voll entfaltete Persönlichkeit schon und immer noch eine, die allein oder in Gruppen musizierte, malte, sich poetisch betätigte und für Musisches Interesse zeigte. Eine wirklich voll entfaltete Persönlichkeit nach der oben beschriebenen Bildungszielphilosophie des Schulgesetzgebers 1962 aber, auf deren „Produktion“ eine Demokratie zur eigenen Wohlfahrt angewiesen ist und hinarbeiten muss, ist ein Bürger erst dann, wenn er aus seiner musisch-humanistisch gebildeten Privatheit heraustritt und sich am öffentlichen Geschehen beteiligt. Wenn musisch begabte und interessierte Schüler, die in einem humanistischen Gymnasium zu jungen, zur Humanität fähigen Staatsbürgern erzogen worden sind, das Gemeinschaftsleben mitgestalten, wird sich das nun schon seit zwei Jahrhunderten eingeübte ungute Verständnis des musischen Menschen als eines auf das Kulturell-Private beschränkten Menschen, also eines insofern nur halben Menschen, langsam zu verschieben beginnen. Und dann erst wird man mit dem Begriff des Musischen die Vorstellung einer voll entfalteten Persönlichkeit verbinden, die für ein Leben in einer auf die Partizipation seiner Bürger angewiesenen Demokratie gerüstet ist.

 


 

[1] so in Anlehnung an Hans-Ulrich Evers,Verfassungsrechtlliche Determinanten der inhaltlichen Gestaltung der Schule.- In: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd 12 (1977), S. 104 (114)