Rezension zu Alessandro Bariccos Roman Mr. Gwyn (2011)

geschrieben im Sommer 2021

Der folgende Text ist zuerst einmal eine ausführliche Inhaltsangabe; mit Bezug auf die Seitenzahlen in der deutschen Taschenbuchausgabe entweder im Fließtext, sofern die Textstellen nur kurz sind, oder in Form einer eigenen Fußnote. Alle Zitate sind kursiv gesetzt. Damit die im Plot eingesetzten und die Neugier der Leserschaft auslösenden   Motive  besser erkennbar werden, folgt die Inhaltsangabe nicht immer der Chronologie des Romangeschehens. Worum es in den  jeweiligen Abschnitten geht, darauf mache ich in  kurzen Überschriften   aufmerksam. Ich weiche auch ein paarmal von der bloßen Wiedergabe ab und nehme Stellung, wenn   mir ein Motiv oder eine Stelle kommentierenswert erschien.  In einem zweiten Schritt ziehe  ich auf einer abstrakteren Ebene ein Fazit.

herausragender Literat zieht sich nach zwölf Jahren unnatürlicher öffentlicher Zurschaustellung (91) aus der literarischen Öffentlichkeit zurück

Jasper Gwyn, die männliche Hauptfigur in diesem Roman, ist  ein seit 12 Jahren im In- und Ausland erfolgreicher und knapp über 40 Jahre alter Literat und teilt der literarischen Öffentlichkeit in einem Zeitungsartikel (im Guardian, London) mit, dass er ab sofort keine Bücher mehr schreiben und publizieren wird. Das Entsetzen seines Verlegers ist groß, seine Überredungsversuche fruchten nichts. Auch seine Leser und Leserinnen müssen diesen Rückzug bedauern, hat ihn Baricco doch mit einer Reihe von hohen literarischen Qualitäten ausgestattet, die sie nun, wenn er seine Ankündigung wahrmacht, vermissen müssen.

Vom Erzähler herausgestrichen werden dabei: die bewundernswerte Fähigkeit des Autors in den drei bisher veröffentlichten Romanen Schreibtechniken an den Tag gelegt zu haben, dass man sie schwerlich als Erzeugnisse ein und desselben Verfassers erkennen konnte (8), die Leichtigkeit, mit der er sich in Personen hineinversetzen und ihre Gedanken voraussagen kann (9), die meisterhaft gearbeiteten Szenen  in einem Krimi über Fälle mysteriösen Verschwindens (8, 27), ein Roman,  der zu den hundert  Bücher zählt, die man vor seinem Tod gelesen haben muss (193). Sehr viel später werden wir erfahren, dass Jasper auch noch unter dem Pseudonym Klarisa Rode und Akash Narayan Romane publiziert hat, die im Rahmen der Plotkonstruktion eine wichtige Rolle spielen werden. 

Die nächste Zeit  genießt Jasper sein Leben, weil er sich nicht mehr  den Zwängen unterworfen fühlt, der er als öffentliche Person ausgesetzt war. Doch bald  beginnt er den Akt des Schreibens zu vermissen und es stellen sich Verstimmtheit und Unbehagen ein, so dass er sich  Beschäftigungen mit Schreibbezug vorstellt, durch deren Übernahme er seine  Ankündigung von der literarischen Bühne abzutreten  aber nicht umstoßen muss. Damit wird unsere Neugier geweckt zu erfahren, wie eine auf Schreiben ausgerichtete Psyche mit diesem Problem umgeht. 

Folgen des Schreibentzugs und berufliche Neuorientierung

Jasper Gwyn zieht das Verfassen von Reiseführern, Gebrauchsanweisungen oder das Schreiben für Leute, die nicht schreiben können, und sogar die Tätigkeit eines Übersetzers  in Erwägung (18). Nach einem Jahr seit seiner Ankündigung den Beruf des Schriftstellers aufzugeben hat der immer noch anhaltende Schreibentzug bei Gwyn sogar zu einer Orientierungslosigkeit in seiner näheren Wohnumgebung geführt. Dem Problem der fehlenden Struktur und der im Übermaß zur Verfügung stehenden Zeit versucht er erst einmal mit der  konzentrierten Wahrnehmung  seines bewusst verlangsamten Alltagslebens Herr zu werden. Die Beobachtung von  Schuhen, Geräuschen, Farben oder das Zählen von Dingen führen zwar zu einer gewissen  Stabilisierung seines Seelenlebens, das Unbehagen aber und die Leere ohne Schreiben lassen sich nicht länger leugnen. Gwyns Überlegungen, welchen Beruf er jetzt ergreifen könnte, sind dann aber (doch ganz plötzlich) von Erfolg gekrönt.

Zuletzt  war das Einzige, was ihm klar vor Augen stand, ein Wort: Kopistkein richtiger Beruf, aber ein Wort mit Nachhall, das Diskretion und Geduld vermittelt, eine Mischung aus Bescheidenheit und Feierlichkeit (19). Die Frage, was  in der wirklichen Welt dem Wort Kopist entspricht, so dass er einen Beruf daraus machen kann, wird ihn in der nächsten Zeit beschäftigen. Auch wir als Leser rätseln mit und sind neugierig geworden. An die Arbeit der  Mönche des Mittelalters, die in den Klöstern Texte theologischen Inhalts abgeschrieben und damit vervielfältigt haben, ist wohl nicht gedacht.  Bis ihm (und uns) das nach und nach klar wird und sein Plan der  beruflichen Neuorientierung  endlich konkrete Formen annimmt, werden über zweiJahre bzw. fast zwei Drittel der insgesamt 230 Romanseiten investiert sein. 

In einem Gespräch mit  der „Dame mit dem Regenschirm“, die ihn im Krankenhaus, es geht ihm nach wie vor nicht gut, auf seine möglicherweise versiegenden literarischen Ideen anspricht, erneuert er seinen Wunsch, einen anderen Beruf auszuüben und greift die Idee als Kopist  zu arbeiten wieder auf (29: Ich glaube, es würde mir gefallen, ein Kopist zu sein.). Sie ist es dann auch, die ihm die Idee Menschen zu kopieren und das so wie sie sind (30), nahelegt. Mit dieser Person wird Gwyn auch nach ihrem Tod immer wieder einmal kommunizieren  und sie wird ihn in seinem Vorhaben „Menschen zu kopieren“ verstärken. Baricco führt seinen Protagonisten  mit dieser Figur – unschwer als ein alter ego von Jasper zu erkennen – zu den kreativen Phantasien der Kinderzeit zurück (28: Sie wirkten wie zwei, die als Kinder zusammen auf der Schule waren … ). 

Noch immer hat er keine Vorstellung, was er leisten muss, wenn er Menschen kopieren soll. In dieser Situation setzt Baricco den Regisseur Zufall ein. An diesem Tag schlug er wie von selbst den Weg ein, den er mit der alten Dame gegangen war (38) und dieser führt ihn  während eines starken Regens in eine Galerie, in der zahlreiche Aktbilder von Männern und Frauen ausgestellt sind. Diese Akte und den dazugehörigen Katalog, ein Fotoband (42: der Maler mit seinen Modellen in seinem Atelier), wird er intensiv studieren.

Aktportraits: stumme Menschen mit falscher Identität

 Grenzen der Malkunst

Es folgen Reflexionen über die Tätigkeit eines traditionellen Portrait-Malers vor Erfindung des Fotoapparates im Vergleich zu dem, was ein Literat beim Schreiben leisten kann.  Einiges an den Akten und Bildern stört ihn, zum Beispiel  die jahrelange Arbeit des Malers, ohne die Technik zu ändern, aber bei einem Vergleich des Aktbildes im Katalog mit dem Akt auf der Leinwand stellt er fest, dass in diesem Fall etwas wie eine Wanderung (43: eine Chiffre für die Methode des Malers) geschehen sein müsse und es dem Maler in diesem Fall gelungen sei, den portraitierten Mann nach  Hause zurückzubringen (43: eine Chiffre für das erreichte Ziel). Diese Formulierung, durch Kursivdruck noch besonders hervorgehoben, wird er als Motto für sein  Ziel Personen durch Schreiben zu kopieren bzw. zu portraitieren übernehmen. Wie die Idee des Kopierens von Menschen, so wie sie sind, in die Realität des Portraitierens übergeführt werden kann, kann er seinem Verleger-Freund Tom aber nach wie vor nicht erklären (50). Immerhin wird ihm klar, dass  das durch Schreiben bewerkstelligte Portraitieren von  Personen  Arbeit ist, vergleichbar mit der  Arbeit, als würde er einen Tisch für sie herstellen oder ihnen das Auto waschen (51). Die von  ihm auftragsgemäß angefertigten Portraits in Form von beschriebenen Blättern würden die Leute bei sich zu Hause in einer Schublade aufbewahren. Die Aktbilder in der Galerie und der Katalog mit dem  Maler und seinen Modellen, deren Nacktheit für ihn eine Art ursprünglicher Zustand vor jedem Schamgefühl ist (42), haben es Gwyn jedenfalls so angetan, dass er nun weiß, was er zu tun hat. 

Preziosität im Atelier

Inzwischen sind zwei Jahre, drei Monate und zwölf Tage nach Gwyns Ankündigung keine Bücher mehr zu schreiben vergangen (91). E mietet ein geräumiges Atelier an und arrangiert mit großer Sorgfalt die Umstände, unter denen das Portraitieren stattfinden soll. Da sein Talent zum Schreiben nun einer Irritation unterworfen ist, bezüglich des Schreibens von Portraits hat er ja keine Erfahrung, greift er zu (und behilft sich mit)  einem Ritual (81) für den Ablauf der zu erwartenden Portraitsitzungen. Für die Ausleuchtung werden 18 von einem genialen Handwerker hergestellte Glühbirnen in einem kindlichen Farbton zwischen Amber bis Himmelblau sorgen, die nach einem ausgeklügelten Plan in einem bestimmten Intervall erlöschen werden, bis im Atelier vollständige Dunkelheit herrscht,  und für die akustische Untermalung während der Sitzungen eine speziell zu diesem Zweck komponierte kindlich wirkende Hintergrundmusik. Das  Motiv „kindlich“ wird im Roman mehrfach angeschlagen, auch im Kontext mit Nacktheit. Kopfzerbrechen bereitet ihm vorerst, dass ihm seine Modelle 32 Tage lang vier Stunden täglich in völliger Nacktheit zur Verfügung stehen sollen. 

Schon zu Beginn des Romans (S. 24) hat Baricco auch Rebecca, ein dickes Mädchen und die weibliche Hauptfigur des Romans, die als Praktikantin im Verlag seines Verlegers arbeitet, in das Geschehen eingebunden. Neben Telefongesprächen wird über sie die Verbindung des Verlags mit seinem Zugpferd Jasper Gwyn aufrechtgehalten. Als er eben diese Praktikantin für einen ersten Probelauf seiner neuen Tätigkeit in Erwägung zieht, kann die inzwischen verstorbene Dame mit der Regenhaube seine Bedenken zerstreuen (77: Es handelt sich um eine Arbeit, Mr. Gwyn. Sie bitten die Frau ja nicht, mit Ihnen ins Bett zu gehen.). 

Nachdem Rebecca ihre Mitwirkung zusagt, die Umstände, unter denen die Sitzungen stattfinden, sich bewähren und das schriftliche Portrait zu vollster Zufriedenheit für beide gelingt, wird die Annonce Schriftsteller verfertigt Portraits aufgegeben (149). Diese hat Erfolg, niemand stellt die Nacktheit als Bedingung für die Portraitarbeit in Frage, so dass, Rebecca mitgerechnet, 11 Portraits auf diese Weise entstehen. Die von Rebecca, die er inzwischen zu seiner Agentin gemacht hat, ausgewählten Auftraggeber haben vor Antritt der Sitzungen einen Vertrag unterschrieben, in dem sie sich verpflichten, alles über die Portraits geheim zu halten. 

Mysterium Kopist / Was steht in den Portraits?

Sehr lange wird um  die Tätigkeit des Kopierens von Menschen, denn die werden ja der Gegenstand seiner neuen beruflichen Tätigkeit sein, ein großes Geheimnis gemacht. Das Kopieren von Menschen, so wie sie sind,  besteht, wie wir schon  erfahren haben, darin,  Menschen zu portraitieren (46), aber erst vier Seiten vor dem Ende des Romans wird sich herausstellen, dass diese Arbeit nicht in Form einer Personenbeschreibung oder Charakterisierung, also in Form eines Sachtextes, geleistet wird, sondern in Form einer Geschichte mit Handlung (dazu ausführlich und phantasievoll 225f;).  Diese wesentliche  Information bekommt die Leserschaft an dieser Stelle freilich nicht von Gwyn, der sich zu diesem Zeitpunkt von der Tätigkeit des Portraitierens  schon wieder verabschiedet hat, sondern aus zweiter Hand, also aus der Perspektive von Rebecca, der weiblichen Hauptperson des Romans.  

Anders noch  als auf Seite 81, wo er glaubt, ohne  die Formen des fiktionalen Schreibens auskommen zu können, wie es seiner Ankündigung im Guardian entspräche, greift Gwyn letztlich doch auf die ihm als Romanautor vertrauten Fähigkeiten zurück.  Aber er hat es diesmal mit realen Personen zu tun, die er nicht wie Romanfiguren erst erfinden muss und dann für seinen Plan mit den passenden  glaubwürdigen Handlungseigenschaften ausstattet. Jetzt erfindet er eine Geschichte zu realen Menschen, schreibt also einen fiktionalen Text und fühlt sich  auf der Basis seiner Fähigkeit, sich in Personen hineinversetzen zu können, in der Lage, auch wirkliche  Menschen mit einem Portrait in Form einer Geschichte charakterisieren zu können, die einer Überprüfung durch die Portraitierten standhalten können (zu den Reaktionen der Portraitierten später). Er schreibt mit anderen Worten Literatur auf Bestellung für spezielle Auftraggeber. Dass Gwyn zu dem Zeitpunkt, als er mit seiner Arbeit beginnen will (85), noch immer nicht weiß, was es heißt, ein Portrait zu schreiben, müssen wir  ihm einfach abnehmen, schließlich war es Baricco, der ihn mit diesem Glauben ausgestattet hat, dass Literatur vergleichbar Stichhältiges und Belastbares zur Personenerkenntnis leisten kann wie beispielsweise ein Fachmann in einem Psychoanalyse-Gutachten. Im Übrigen wird die Neugier darüber, was denn nun in den angefertigten Portraits zu lesen ist, weiter am Köcheln gehalten. Aber bis zum Ende des Romans wird der Leser keine einzige Zeile zu Gesicht bekommen haben.

Anders geht es den Auftraggebern nach der Lektüre ihrer Portraits. Alle sind sie  von den (unterschiedlich langen) Texten, für die sie nach einem nicht erkennbaren System unterschiedlich viel bezahlen, und die sie bald nach der letzten Sitzung von der Assistentin Gwyns in einer adrett verpackten Mappe überreicht bekommen, ausnahmslos angetan. Sie geben zu verstehen, dass sie sich erkannt fühlen und mit diesen Portraits etwas ganz Kostbares in den Händen halten. Rebecca findet das Portrait von Gwyns Verleger-Freund Tom, das er im Krankenhaus kurz vor dessen Tod für ihn anfertigt, zum Verwechseln ähnlich (208). Es soll ihn zurück nach Hause bringen (164).  Hier erhält diese gar nicht mehr so rätselhafte Aussage über die Wirkung von Kunst (zum ersten Mal so formuliert in der Galerie 43) sogar eine metaphysische Ausrichtung. 

Knalleffekt  beim letzten Aktmodell

In den Tagen, in denen  es Gwyn mit einer bildhübschen und  verführerischen Neunzehnjährigen zu tun bekommt, es wird das letzte Portrait sein, tauchen in Boulevardzeitungen Informationen über die pikante Zusammenarbeit mit seinen Modellen auf. Als  schließlich in einem neuerlichen Bericht sogar der Name des Literaten genannt wird, zieht er sich nach der Fertigstellung des Portraits und er Rebecca mit der Abwicklung dieses Unternehmens beauftragt hat, zurück und bleibt (für immer) verschwunden. Rebecca, der die Beziehung zu  Gwyn in der langen Zeit, als sie ihm als Modell und später als seine Agentin zur Verfügung stand, alles andere als gleichgültig geworden ist,   bekommt zu ihrer Bestürzung von der Neunzehnjährigen unter Anführung intimer Details mitgeteilt, dass sie mit Jasper Gwyn geschlafen hat und sie es gewesen ist, die die Zeitungen mit den die Öffentlichkeit nun beschäftigenden Informationen versorgt hat. Die Leserschaft wird (wie Rebecca auch) bis zum Ende des Romans im Ungewissen bleiben,  ob ihre Behauptungen der Realität entsprechen. Als ihr von Gwyn am Ende ihrer Tätigkeit ein Paket zukommt mit allen Portraits, einem handgeschriebenen Dankesbrief (Immer ihr dankbarer Jasper Gwyn, Kopist 191) und einem Buchgeschenk, ein eben aus dem Nachlass der Schriftstellerin herausgekommener Roman von  Klarisa Rode, wirft  sie, enttäuscht über ein solches Ende ihrer Beziehung zu Jasper das Buch an die Wand. Die Aushändigung und die Verwahrung der Portraits durch Rebecca folgt keiner Sachlogik, er selbst könnte besser dafür sorgen, sondern der Plotkonstruktion. Rebecca wird durch sie zu ihren Recherchen veranlasst, die auch für uns Leser bestimmt sind.

Motiv abschreiben

Nach vier Jahren, inzwischen hat sie sich eine  neue Existenz aufgebaut, eine Familie gegründet und sich mit dem Verschwinden Gwyns abgefunden, entdeckt Rebecca dieses Buch in einer Buchhandlung, beginnt zu lesen und entdeckt darin zu ihrer Überraschung ihr Portrait. Der schnell sich einstellende Verdacht (194), dass Jasper es von dieser Autorin abgeschrieben hat, also kopiert hat (kopieren diesmal im Sinn von: wortwörtlich abschreiben), verwandelt sich bald in die freudige Erkenntnis, dass Gwyn auch der Autor aller Romane von Klarisa Rode ist (die von Rebecca schon lange vor dieser Entdeckung bewundert wird) und die Verarbeitung ihres Portraits ein Zeugnis für seine Wertschätzung für sie ist. Um sicher sein zu können, dass sie die einzige ist, die einer solchen zuteil geworden ist, lässt sie  einen Bekannten, ein lebendes Literatur-Lexikon und Experte für die Urheberschaft von Texten, dem sie alle Texte mit Ausnahme des eigenen vorlegt, überprüfen,  ob Jasper in seiner grenzenlose(n) Verschrobenheit (200) bei der Ausarbeitung  der Portraits der Auftraggeber nicht auch noch eine andere Person mit derselben Aufmerksamkeit bedacht hat. Tatsächlich  findet der Experte (und das ohne Hinweis auf die Zuhilfenahme eines elektronischen Suchsystems) bei einem der Portraits eindeutige Parallelen zu einer Textstelle in einem Buch eines bereits verstorbenen Inders namens Akash Narayan  mit dem Titel Dreimal im Morgengrauen Zu Hause versucht Rebecca eben dieses Portrait einer der Personen zuzuordnen, für die Gwyn geschrieben hat. Mit deren Biografie bestens vertraut, schließlich sind  sie von ihr ausgewählt worden, muss sie, als keines der Portraits sich mit einer dieser Personen zur Deckung bringen lässt, den Schluss ziehen, dass Gwyn auch der Autor des Romans Dreimal im Morgengrauen ist und ihr mit dem untergeschobenen Portrait daraus  ein zweites Geschenk gemacht hat, nämlich sein Selbstportrait. Dessen Quintessenz ist wohl eine verspätete Beziehungsklärung zu ihr, wenn nicht sogar einer Liebeserklärung. Nachdem Rebecca das Buch von Narayan, das Gwyn mit einer Widmung für den Lampen-Künstler versehen hat, diesem zurückgebracht hat, verschwindet auch sie aus dem Romangeschehen, nicht aber Klarisa Rode, von der schon wieder ein Buch herausgekommen ist. Nach zwei Seiten einer gerafften Inhaltsangabe des Romans über einen eigenartigen Hobby-Meteorologen macht Baricco dann augenzwinkernd endgültig Schluss und auch der Held dieser schrägen Geschichte verschwindet. 

Das Motiv der Nacktheit 

am Beispiel der Portraitsitzungen mit Rebecca

Ich beziehe ich mich bei der Darstellung und Beurteilung der  Szenen schwerpunktmäßig nur auf die  mit Rebecca, da diese breit angelegt sind und nicht kursorisch wie die der späteren AuftraggeberInnen.

Die Nacktheit seiner Modelle sind also für Jasper Gwyn die unverzichtbare Voraussetzung für das Gelingen seiner Portraitarbeit. Er selbst ist, was intime Beziehungen betrifft, ein zurückhaltender Typ (ein one-night-stand während eines Kurzurlaubes zu Beginn des Romanes ist auf die Initiative seiner Urlaubsbekanntschaft zurückzuführen; S. 15) und schätzt Schüchternheit. Beim Denken an ein nacktes Modell vor seinen Augen empfindet er nichts als große Verlegenheit und eine unvermeidliche Verwirrung (76). Er legt sich auf ein weibliches Modell als ersten Versuch fest (76: Eine Frau war auf jeden Fall besser, er würde nicht ganz bei Null anfangen müssen.). Aber hier kam die Variable des Begehrens hinzu. Da er die Anfertigung eines Portrait für eine Arbeit hält, die vor dem reinen, einfachen Begehren geschützt werden musste, konnte sie  höchstens von diesem Begehren ausgehen und es dann irgendwie überwinden (77). Er ist sich darüber im Klaren, dass die Arbeit im Atelier distanzierte Intimität voraussetzt. Folgerichtig schließt er, bei seinem Probelauf, um Erfahrungen zu sammeln, ein Modell mit zu viel Schönheit aus. Zu wenig wäre andererseits betrüblich gewesen. Was Jasper Gwyn suchte, war eine Frau, die man gerne anschaute, doch nicht so sehr, dass man sie schließlich begehrte (77). Die korpulente Rebecca mit dem wunderschönen Gesicht, für die er sich entscheidet und die ihm zugesagt hat, erfüllt diese Voraussetzungen. In einem Telefongespräch mit seinem Verleger (79) meint er: Er stellte sich vor, wie die rettungslose Schönheit ihres Gesichts ein Begehren weckte, das ihr Körper dann langsam, träge und gründlich widerlegt. 

Am ersten Arbeitstag von Rebecca lässt Gwyn sie warten und taucht in den vier Stunden, die  sie nackt im Atelier zur Verfügung steht, überhaupt nicht auf. Den Grund dafür erfährt man nicht. Die Leserschaft kann sich entscheiden, ob er das tut, damit sich das Mädchen mit der Nacktheit im Atelier vertraut machen kann, oder ob er damit die Spannung, was geschehen wird,  bei der Verlagspraktikantin, die ihn bewundert, steigern möchte. Gwyn ist am nächsten Tag vor ihr im Atelier und dreht ihr beim Ausziehen den Rücken zu (das Zusehen erschien ihm unfein 98), registriert dann die überraschend kleinen Brüste und die verborgenen Muttermale verzichtet aber auf weitere intime Details. Denn ihm ist das schreibkünstlerische Anliegen, die Gesamtheit zu verstehen, diese Gestalt, die aus noch zu klärenden Gründen keinen Zusammenhang zu haben schien, zu irgendeiner Einheit zurückzubringen (99). Noch glauben wir der  von Baricco offerierten zweckdienlichen Nüchternheit der Arbeit seines Protagonisten im Atelier. Bei der Darstellung dessen, was im Atelier geschieht, wird die Schreibweise Bariccos aber zunehmend ambivalent. Das heißt, so unschuldig, wie sich das Ganze anfänglich darstellt, bleibt es nicht. So begibt  er sich an diesem Tag, nachdem Rebecca gegangen ist, auf das eben noch von Rebecca benützte Bett, und legt seinen Kopf in die Vertiefung des Kissens, die sein Modell hinterlassen hat (99). Einerseits wird Baricco weiter mit dem Motiv der unschuldigen Herangehensweise seiner männlichen Hauptfigur arbeiten, die Optik der Glühbirnen und die Akustik der Hintergrundmusik ist ganz auf den Modus „kindlich“ hergerichtet, gleichzeitig eröffnet er seinen Lesern und Leserinnen einen reizenden Projektionsraum. Ein Beispiel dafür liefert er gleich am nächsten Tag, an dem er beides möglich macht.  Da lässt er seinen Protagonisten einen Notizzettel am Holzfußboden anheften, sich dabei niederbücken und zu Rebecca hochblicken, die unmittelbar vor ihm nackt an der Wand lehnt. Rebecca blickte ihn direkt an. Es war ein sanfter Blick, ohne Absichten. Sie verharrten reglos, starrten sich an, atmeten langsamDann schlug Jasper Gwyn die Augen nieder (101). Nacktheit wird hier einerseits als eine Art ursprünglicher Zustand vor jedem Schamgefühl vorgeführt, eine Vorstellung, von der wir schon im Zusammenhang mit dem Urteil über die Aktmodelle im Fotoband in der Galerie erfahren haben, andererseits wird der Kontext, in dem Nacktheit vorgeführt wird, so aufgebaut, dass es, wenn man sich die Szene mit Jasper und Rebecca vergegenwärtigt, schwer fällt, die erotisch-sexuelle Komponente nicht mitzudenken. So wie das auch sein Verleger-Freund Tom tut, als er von Rebecca, die zwischendurch auch im Verlag arbeitet, erfahren möchte, wie Jasper sich im Atelier ihr gegenüber benimmt. Es sind dieselben Fragen und Phantasien, die auch wir als Leser und Leserinnen haben.  Ein weiteres Beispiel findet sich auf Seite 107. Einmal, während Rebecca in Seitenlage schläft, schiebt er einen Sessel an das Fußende des Bettes, betrachtet sie aus einer Nähe wie nie zuvor  und mustert Details (die Körperfalten, die Nuancen der weißen Haut). Diese Kleinigkeiten braucht er, wie er bekennt,  für sein Portrait gar nicht. Der Leserschaft dürfen sie, damit wir uns ein genaueres Bild von dieser pikanten Situation machen können,  freilich nicht vorenthalten werden. Als Rebecca die Augen aufschlägt, schließ sie unwillkürlich die Beine, öffnet sie dann aber langsam wieder. Jasper rechtfertigt dieses Betrachten aus nächster Nähe damit, dass er dadurch eine heimliche Nähe gewann, die ihn viel weiter brachte (108). Wie erotisch die Szene in der Wirkung auf Rebecca aufgeladen ist, zeigt sich wenig später, als Jasper seinerseits eingeschlafen ist, sie nach dem Ende der Sitzung aus dem Bett steigt, sich noch vor dem Anziehen nackt dicht neben ihn hinstellt, bis ihre Hüfte die herabhängende Hand fast berührt und sich die Finger dieses Mannes an ihrem Geschlecht denkt (108). Ein anderes Mal (111) präsentiert sich Rebecca nach einer Liebesnacht mit ihrem Freund, um Jasper herauszufordern, voller Sex am Körper im Atelier (Heute kriegst du mich so, mein lieber Jasper Gwyn, mal sehen, welch eine Wirkung das auf dich hat.). Baricco weiß, was er tun muss, damit  Gwyn darauf nicht reagieren muss. Er lässt das Motiv ins Leere laufen, indem er  Gwyn drei Tage verschwunden sein lässt. Wieder ein anderes Mal wünscht  sich Rebecca, er möge sich ihr nähern. Seine hartnäckige Weigerung sich das zu nehmen, was sie ihm ohne jeden Wiederwillen gewährt hätte, enttäuscht sie. Ihr Versuch ihn  zu verführen, scheitert aber kläglich. Immer war er es, der zu einer schmerzlosen Distanz zurückfand (113). Rebecca masturbiert sogar einmal und hätte nichts dagegen, wenn ihr Jasper dabei zusähe (115), aber wieder einmal erscheint Gwyn nicht im Atelier. In ihrer Frustration phantasiert sie sich sogar die Anwesenheit eines zweiten Mannes zusammen (116). Schließlich  hat sie sich für das intime Arrangements mit ihm im Atelier etwas ausgedacht, mit dem sie bezüglich des Ungleichgewichts der intimen Situation besser zurechtkommen kann.  Sie zieht ihm, wie sie es bei einem Kind getan hätte, das Jackett aus, streift ihm sein Hemd ab und zieht ihm auch Schuhe und Socken aus, was er alles geschehen lässt.  Das findet sie jetzt viel präziser (121). Auch in dieser pikanten Situation fährt Baricco den Beziehungsmodus  auf unschuldig und nativ herunter und bremst damit mögliche Phantasien von uns Lesern ein (?). In der Nachbesprechung, als Rebecca ihr Portrait gelesen hat, fasst sie die Erkenntnisse der Zusammenarbeit mit Gwyn und ihren Umgang mit der Nacktheit ihm gegenüber zusammen. Mit dieser Reflexion gelingt es Rebecca, deren Verhalten Baricco lange Zeit nach dem Klischee der triebgesteuerten und dem Mann durch ihre Initiative gefährlich werdenden Weib organisiert, ihre Lust zu sublimieren und in eine zivilisiert vorgetragene  Klage umzumünzen über die nicht ausgefüllte Distanz zwischen Gwyn und seinen Auftraggebern,  die unter den Umständen dieser Art von Portraitsitzungen besonders schmerzhaft erlebt würde. Nach so viel Sublimationsarbeit können die Rebecca vom letzten Portrait-Modell triumphierend berichteten leidenschaftlichen Sexszenen mit Gwyn, deren Wahrheitsgehalt nie aufgeklärt wird, eine umso größere Wirkung entfalten. Ob man mit Gwyn jetzt wider Erwarten doch einen „tollen Hecht“ vor sich hat, der es mit einer Neunzehnjährigen aufnimmt: Wir werden es nicht erfahren. Klug von Baricco war es allemal, die  berufliche Neuorientierung seines Protagonisten rechtzeitig  abzubrechen und sich aus dem Staub zu machen.

FAZIT 

Für literaturaffine Leser du Leserinnen hält der  Roman von Alessandro Baricco, der von einem Geschehen  in einem Zeitraum von über sechs Jahren erzählt, ein Überangebot bereit von  reizenden Motiven, Überraschungen, Versteckspielen, dunklen auf existenzielle Grundbefindlichkeiten bezogene Chiffren, welche die Neugier aufrecht halten, und vielen Projektionsräumen mit der Einladung, sie mit eigenen Vorstellungen zu füllen. Auf 230 Seiten, nahezu der Hälfte des Textes in schnörkelloser Sprache verfassten Dialogen,  spielt er die phantastische Idee durch, dass Menschen, die durch die Zwänge der Zivilisation zu Bruchstücken ihrer selbst geworden sind,  mit Hilfe seines Protagonisten,   geholfen werden kann, ihre Einheit wiederzufinden. Im realen  Leben nehmen Menschen dazu gewöhnlich die Dienste eines Psychotherapeuten in Anspruch, die eines Pädagogen oder auch eines Priesters, Berufe, die Gwyn selbst ins Spiel bringt (126). Das Phantastisch-Bizarre bei Bariccos Plotidee besteht in der Idee, dieses Ziel auch mit Hilfe eines neuen Geschäftsmodells erreichen zu können, bei dem ein  erfolgreicher Autor seine in der Welt der Fiktionen (der Literatur)  bewährten Fähigkeiten ins reale Leben überträgt. Mit der Annonce Schriftsteller verfertigt Portraits undder Inanspruchnahme seines Dienstes durch Kunden in seinem Atelier expediert Baricco  seinen Helden aus der Welt der Fiktion hinaus in die Realität mit realen Personen, in der andere Gesetze gelten, unter denen sich  eines solches  Vorhaben erst noch bewähren muss. Die mit therapeutischer Zielsetzung seitens des Anbieters unternommene Anfertigung von Portraits auf Bestellung in Form einer Geschichte für singuläre Kunden und die sich im Rahmen der Aktsitzungen und nach der Lektüre einstellende Selbsterkenntnis als grandiose Wirkung seitens der Auftraggeber sind eine fantastische Idee von der möglichen Wirkung einer solchen Therapieform, die jetzt freilich an der Wirklichkeit gemessen werden müsste. Dabei müssten als die  Variablen für die im Roman ausgemalte Wirkung die Nacktheit einerseits  und der Portrait-Text andererseits auseinandergehalten werden. Zur Nacktheit (auch der seelischen) als Therapieform ließe sich einiges ergoogeln.  Auf diese prosaische Ebene sollte die Idee des Literatur-Menschen Baricco  wohl nicht heruntergebrochen werden? Bleibt sie im Rahmen der Fiktion, entfaltet sie jedenfalls einen nicht geringen Reiz, zumal in der Verbindung über das  Signalwort kindlich, mit dem Baricco die Atmosphäre (Beleuchtung und Hintergrundmusik) und Vorgänge im Atelier (Nacktheit als ein Zustand vor jeder Scham) einfärbt. Das bewirken  ebenso die auf „unschuldig“ heruntergedimmten, auch religiös konnotierten Berührungsvorstellungen und -wünsche bei Gwyn und seinen Auftraggebern, die an das Phänomen Heilung durch Berührung und  Handauflegen denken lassen  (mit dem Anklang wohl an den  Himmelsleitervorschlag aus dem Neuen Testament Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder). Existenzialistisch gestimmte Leser und Leserinnen können sich durch die in der Formulierung jemanden zurück nach Hause zurückbringen  anklingende metaphysische Überhöhung des Zieles und der erhofften Wirkung der Therapie angesprochen fühlen und Frauen, die mit ihrem Körpergewicht unzufrieden sind, aufgebaut,  wenn sie nachverfolgen, wie die korpulente Rebecca, die meint, dass ihr  Körper sie nurzu kaputten Beziehungen prädestiniert(110), ihr Leben in die Hand nimmt und sich am Ende ihrer Tätigkeit für Jasper vor dem Spiegel stehend schön und lebendig erlebt (189). Besonders reizvoll arbeitet Baricco mit dem Motiv des Verschwindens von Figuren, das schon  auf der zweiten Seite des Romans angeschlagen wird (siehe Fußnote 3). Gwyn  hinterlässt Rebecca nach dem Abbruch seiner Tätigkeiten als Portrait-Schreiber zwar Spuren seiner Existenz, bleibt aber für immer unauffindbar. Als Person ebenfalls nicht greifbar bleiben Klarisa Rode und der Inder Akash Nayaran, weil sie  Pseudonyme für von Gwyn verfasste Texte sind, die im Rahmen des Plots eine bedeutsame Rolle übernehmen. Raffiniert in das Romangeschehen eingearbeitet bleibt die wahre Autorschaft  lange verborgen. Rebecca und die Leserschaft müssen einige Detektivarbeit zu ihrer Aufdeckung leisten. Mit dem unbegründeten Verdacht, Gwyn habe einige Stellen bei seinen Portraittexten von ihnen abgeschrieben, sich also eines  Verstoßes gegen das Urheberrecht schuldig gemacht, ein aus aktuellen  Politikerbiografien bekanntes Motiv,  sorgt Baricco noch länger für Spannung.  Im vorletzten Kapitel nimmt Baricco Rebecca ohne jede Anmerkung aus dem Spiel. Am Ende hält nur mehr ein sonderbarer Meteorologe, eine Figur aus dem  Nachlass von Klarisa Rode, mit der Gwyn schon wieder ein Lebenszeichen von sich gibt, kurz die Stellung,  bevor sich auch diese Figur in einer sternenklaren Nacht für immer verabschiedet. Für Rebecca, die damit einen Hinweis auf das Verbleiben von Gwyn bekäme, ist es da schon zu spät. Ach ja, eine Liebesgeschichte ist der Roman von Baricco auch, halt in der noch traurigeren Variante von den zwei Königskindern, die es trotz der räumlichen und emotionalen Nähe, in der sie miteinander agieren, nicht schaffen zueinander zu finden. Und wer sich vielleicht ärgert, dass er keinen Einblick bekommen hat, was die Auftraggeber da in ihren Portraits lesen, der möge sich einmal noch die Plotlogik bewusst machen: Die Portraittexte bleiben  den Auftraggebern vorbehalten. Wir Leser haben zwar den Roman gekauft, aber Gwyn nicht beauftragt, auch für uns ein solches Portrait anzufertigen. Uns bleibt eben nur das Schlüsselloch (auf dem Cover), durch das wir unsere Projektionen blasen, auch wenn die Konturen der Figuren und das, was sie da in ihren Händen halten, dadurch ins Schwimmen geraten.